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Alle TutorInnen-Antworten zum Drucken online

Ihr könnt euch jetzt eine PDF-Datei mit allen Antworten der TutorInnen auf die in den Lesekreisen entstandenen Fragen herunterladen und zusammen ausdrucken. hier!

 

     

     

    1. Fragenrunde (Ende 2008)

    Beantwortet von Sabine Nuss und Ingo Stützle, Thomas Sablowski, Michael Heinrich und Alex Demirović

    1) Wann hat eine Ware ihren höchsten Wert?


    Sabine Nuss und Ingo Stützle

    Eine Ware hat immer dann einen höheren Wert, wenn sich bei ihr mehr abstrakte Arbeit als bei einer anderen Ware geltend macht. Dabei ist aber der springende Punkt, dass eben nicht der langsamste Privatproduzent mehr Wert produziert. Wert stellt eine gesellschaftliche Durchschnittsgröße dar. Nur die Arbeit ist wertbildend, die gesellschaftlichen Gebrauchswert, also Gebrauchswert für andere produziert. Nur die Arbeit ist wertbildend, die zugleich "den Charakter einer gesellschaftlichen Durchschnitts-Arbeitskraft besitzt und als solche gesellschaftliche Durchschnitts-Arbeitskraft wirkt" (53). Nicht die individuell, privat und tatsächlich aufgewendete Arbeitszeit gilt als wertbildend, sondern die Arbeitszeit, die Marx "gesellschaftlich durchschnittlich Arbeitszeit" bezeichnet. Marx führt an der Stelle zwei Punkte an, die für diese gesellschaftliche Durchschnittsgröße relevant sind: a) gesellschaftlich-normale Produktionsbedingungen, d.h. normaler Stand der Technik, Wissenschaft etc. b) gesellschaftlicher Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit, d.h. was gesellschaftlich als normale Qualifikation und Intensität der Arbeit gilt. Auf Seite 54 von MEW 23 fasst Marx eine paar Punkte zusammen.

    Wichtig ist jedoch, dass die Wertgröße, die von den hier genannten stofflichen Bedingungen (Produktivkraft der Arbeit) abhängt, damit noch lange nicht in der Produktion feststeht oder fixiert ist. Vielmehr stellt sich erst im Tausch, d.h. auf dem Markt heraus, in wie weit die Produktion den gesellschaftlichen Durchschnittsanforderungen gerecht wurde und ob überhaupt ein gesellschaftlicher Gebrauchswert produziert wurde. Trifft letzteres nicht zu, so hat das unter Schweiß hergestellte Produkt auch keinen Wert und stellt damit auch keine Ware dar.

    Thomas Sablowski

    Die Wertgröße einer Ware wird bestimmt durch die zu ihrer Produktion gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit. Diese hängt in erster Linie von der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit ab: Mit steigender Arbeitsproduktivität wird es möglich, in derselben Zeit mehr Produkte zu produzieren bzw. ein Produkt in kürzerer Zeit zu produzieren. Mit steigender Arbeitsproduktivität sinkt also der Wert einer Ware. Die Arbeitsproduktivität steigt im historischen Verlauf tendenziell an, weil die Kapitalisten aufgrund der Konkurrenz gezwungen sind, ständig effizientere Produktionsmethoden einzuführen. Es kann allerdings auch sein, dass die Arbeitsproduktivität sinkt – in der landwirtschaftlichen Produktion z.B. aufgrund schlechterer Witterungsbedingungen (ein Beispiel, das Marx selbst anführt), oder aufgrund der Zerstörung des Produktionsapparats durch Kriege oder Naturkatastrophen. Wann eine Ware ihren höchsten Wert hat, lässt sich nicht feststellen, da sich die Wertgröße - abgesehen von den dargestellten Bestimmungen – nicht gesetzmäßig entwickelt. Außerdem ist der Wert generell nicht empirisch fassbar. Messbar sind nur Preise.

    Michael Heinrich

    Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich auf den ersten Band des „Kapital“ (MEW 23). Es empfiehlt sich, die entsprechenden Stellen noch einmal selbst nachzulesen.

    Wertbildend ist nicht die individuell verausgabte konkrete Arbeit, sondern die „wertbildende“ abstrakte Arbeit. Wertbildend ist die „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ (sie hängt vom Stand der Produktivkraft, der Qualifikation der Arbeitskraft und der durchschnittlichen Intensität der Arbeit ab, 53). Mit steigender Produktivkraft vermindert sich die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit (und damit der Wert), mit sinkender Produktivkraft vermehrt sie sich (ebenso der Wert). Diese durch den Stand der Produktivkraft etc. bestimmte gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist insoweit wertbildend wie sie auch „gesellschaftlichen Gebrauchswert“ (55) produziert, d.h. insoweit sie auf zahlungsfähige Nachfrage stößt (121f.). Es gibt weder einen höchsten noch einen niedrigsten Wert.

    Alex Demirović

    Der Wert einer Ware ist bestimmt durch die zu ihrer Erzeugung gesellschaftlich durchschnittliche notwendige Arbeitszeit. In die Wertgröße einer Ware gehen also auch alle wertbildenden Arbeiten mit ein, die zu ihrer Herstellung notwendig sind. Der Wert aller dieser einzelnen Arbeiten, die zur Erzeugung einer Ware beitragen, kann aufgrund vielfältiger Umstände schwanken, je nachdem, in welchem Umfang sich in ihnen gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit kristallisiert: Wert der von den Lohnarbeitenden benötigten Nahrungsmittel, Mangel oder Überfluss an Arbeitskräften, Mangel oder Überangebot an Rohstoffen, Maschinen. Der Wert (und Preis) einer Ware steht also nicht ein für allemal fest, sondern wird durch die ständig stattfindenden Veränderungen der durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit berührt. Schwankungen resultieren jeweils daraus, daß zur Herstellung einer Ware entweder mehr gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit aufgewendet muss oder zu viel aufgewendet wurde. Daraus ergibt sich, daß die Waren keinen vorweg bestimmbaren höchsten Wert haben. Denn dies würde nahelegen, daß die Waren einen inneren Wert haben. Das ist nicht der Fall. Der Wert der Ware schwankt, da auch die Menge der gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Verausgabung von menschlicher Arbeitskraft schwankt, die zu ihrer Herstellung notwendig ist. Es kommt also zu ständigen Schwankungen. Aber in diesen Schwankungen kann es dann irgendwann auch einmal zu einem höchsten Wert und einem höchsten Preis in der Lebensgeschichte einer Ware kommen.

    Die Schwankungen bei der Menge der gesellschaftlich durchschnittlichen notwendigen Arbeitszeit ergeben sich aus der Menge der angebotenen Arbeitszeit, also der Ware Arbeitskraft oder ihrer Produktivität. Wird zu viel Ware Arbeitskraft angeboten, dann meint dies, daß zu viel Arbeitszeit in ihre Herstellung eingegangen ist. Im gesellschaftlichen Durchschnitt wird also jede Arbeitskraft weniger Wert. Die gleiche Wirkung hat die Erhöhung der Arbeitsproduktivität (durch neue Formen der Kooperation, durch Werkzeuge und Maschinen). Denn nun kann dieselbe Menge Ware durch weniger gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeit hergestellt werden. Die Ware Arbeitskraft verliert an Wert.

    2) Was ist der Unterschied zwischen Preis und Wert?

    Thomas Sablowski

    Der Preis ist die notwendige Erscheinungsform des Werts. Das heißt jedoch nicht, dass Werte und Preise identisch sind. Jede Ware hat einen Preis, doch nicht alles, was einen Preis hat, ist auch eine Ware (d.h. jedes zum Tausch auf dem Markt bestimmte Arbeitsprodukt). Marx macht deutlich, dass auch Dinge, die keine Waren in diesem Sinne sind, einen Preis haben können (z.B. „jungfräulicher Boden“, Ehre etc.). Im Rahmen der Warenanalyse im ersten Band des „Kapital“ geht Marx zwar davon aus, dass die Wertgröße und der Preis einer Ware identisch sind, d.h. um die Begriffe des Werts und des Preises zu entwickeln, abstrahiert er von ihrer möglichen quantitativen Inkongruenz. Im dritten Band des „Kapital“ lässt Marx diese Voraussetzung jedoch fallen. Er zeigt, dass die Annahme der Identität von Wertgröße und Preis mit der Tendenz zur Herstellung einer einheitlichen Profitrate unvereinbar ist. Marx führt in diesem Zusammenhang die Kategorie des Produktionspreises ein und macht deutlich, dass die Produktionspreise systematisch von den Werten abweichen müssen. Im Übrigen führen auch die Schwankungen von Angebot und Nachfrage dazu, dass die Marktpreise von den Werten bzw. Produktionspreisen abweichen.

    Michael Heinrich

    Preis ist Tauschwert ausgedrückt in Geld (84), Tauschwert ist die „Erscheinungsform“ des Werts (51, 53 oben).

    Werte sind die Waren als „Kristall“ ihrer „gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz“, der abstrakt menschlichen Arbeit (52).

    Alex Demirović

    Im Durchschnitt aller Marktbewegungen entsprechen die Preise dem Wert einer Ware. Doch handelt es beim Wert der Ware um eine theoretische Abstraktion, die begreiflich machen soll, was auf dem Markt geschieht. Auf diesem gibt es nur die Preise. Preis und Wert bewegen sich also logisch auf zwei verschiedenen Ebenen. Die Preisbewegungen stellen in ihren Schwankungen eine Art Suchvorgang nach dem Wert der Ware dar, der selbst niemals endgültig feststeht, weil sich aufgrund einer Vielzahl von Faktoren die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zur Herstellung der Ware ständig ändert. Es gibt in diesem Sinn keine Ziellinie, an der der Preis mit dem Wert übereinstimmt. Denn immer von neuem wird sich der Wert einer Ware schon wieder durch die Aktivität eines Marktteilnehmers verändert haben – und erneut bewegt sich das Karussell der Preise.

    3) Ist der Begriff Tauschwert synonym zum Begriff der Wertgröße?


    Sabine Nuss und Ingo Stützle

    Nein. Die Überschrift des dritten Unterkapitels im ersten Kapitel ist von Marx bewusst gewählt und gibt die Antwort auf die Frage: "Die Wertform oder der Tauschwert". Wertform und Tauschwert werden synonym verwendet. Was von Marx in der Überschrift auf Seite 62 erst einmal nur nahe gelegt wird, verdeutlicht sich auf den folgenden Seiten (63-85). Der Wert ist an einer einzelnen Ware nicht fassbar, sondern nur in einem Wertverhältnis, in einem Verhältnis zweier Waren. Der Wert der einen Ware drückt sich in dem der anderen Ware aus. Deren Gebrauchswert wird zum Träger, dient als Material des Wertausdrucks. Die Ware hat in diesem Wertverhältnis, in dem es in der Wertform steht, einen Tauschwert. Dieser ist die Erscheinungsform des Werts der anderen Ware. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, Tauschwert und Wertform synonym zu verwenden - nicht jedoch die Wertgröße. Die Wertgröße stellt nur die "quantitative Bestimmtheit" der Wertform dar (67ff.). Im dritten Unterabschnitt interessiert Marx aber vor allem die Wertform und die Frage nach dem Zusammenhang von Wert und Geld (in dieser Weise könnte man die ersten beiden Seiten des Vorworts interpretieren) .

    Thomas Sablowski

    Den Begriff des Werts bestimmt Marx im ersten Kapitel des „Kapital“ in dreifacher Weise: im Hinblick auf die Wertsubstanz, die Wertgröße und die Wertform. Der Tauschwert ist die Erscheinungsform des Werts und als solche sowohl qualitativ als auch quantitativ bestimmt. Marx zeigt in der Wertformanalyse, dass der Tauschwert letztlich die Geldform bzw. die Form des Preises annehmen muss. Damit ändert sich aber auch die quantitative Bestimmung des Werts: Anfangs argumentiert Marx, dass die Wertgröße einer Ware durch die zu ihrer Produktion gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit bestimmt wird. Dann zeigt er jedoch, dass diese Arbeitszeit gar nicht messbar ist: Gemessen werden kann nur die Dauer von konkreten Arbeiten, aber nicht die abstrakte Arbeit als Wertsubstanz. Messbar ist der Wert (bzw. Tauschwert) letztlich nur in seiner Geldform, d.h. als Preis.

    Michael Heinrich

    Nein, Tauschwert einer Ware ist ihr Austauschverhältnis mit anderen Waren (50f.), Wertgröße ist die quantitative Bestimmung des Werts (53). Wichtig ist außer diesem grundsätzlichen Unterschied noch ein quantitativer. Der Tauschwert (Preis) drückt die Wertgröße aus, dieser Wertausdruck (beim Preis in Geld) kann die Wertgröße adäquat wiedergeben, er kann aber auch durch besondere Umstände bestimmt sein, die es erlauben teurer zu verkaufen, oder zwingen billiger zu verkaufen (116f.). Über diese „Umstände“ äußert sich Marx am Anfang des „Kapital“ nicht näher, es sind zufällige, vorübergehende Umstände. Erst im dritten Band geht es um systematische Abweichungen des Preises von einem adäquaten Ausdruck der Wertgröße. Allerdings weist Marx bereits im ersten Band an zwei Stellen ein häufig anzutreffendes Missverständnis zurück: Er hebt hervor, dass die Preise, die wir empirisch beobachten, NICHT um die Werte schwanken (181, Fußnote 37 und 234, Fußnote 31a). Außerdem hält Marx fest, dass Dinge, die nicht Arbeitsprodukt sind, die daher auch keinen Wert haben können, verkauft werden und somit einen Preis haben (als Beispiele nennt Marx unbearbeiteten Boden, aber auch das eigene Gewissen 117). Es ist also möglich, dass etwas einen Preis (Tauschwert) besitzt, ohne einen Wert zu haben. Es ist aber nicht möglich, dass etwas Wert ohne Tauschwert hat: nicht das einzelne Ding hat Wert, Wertgegenstand ist eine Ware nur als „Kristall“ von etwas „Gemeinsamen“ (52). Ohne Tausch können wir nur von Gebrauchswert, aber nicht von Wert sprechen.

    Alex Demirović

    Nein. Der Tauschwert ist der entscheidende Aspekt eines Produkts unter kapitalistischen Bedingungen und besagt, daß ein Gut als Ware nicht nur einen Gebrauchswert hat, sondern auch einen Wert (Tauschwert als Erscheinungsform des Werts). Dieser Wert verkörpert die gesellschaftliche Funktion der Ware. Ein Gegenstand wird als Gebrauchswert hergestellt. Doch ob dieser Gebrauchswert benötigt wird, ist nicht klar, weil es sich um eine private Arbeit für einen anonymen Markt handelt. Der Tauschwert ist bestimmt davon, ob sich im Tausch eine konkrete Arbeitsleistung als gesellschaftlich notwendige Arbeit erweist (Wert als gesellschaftliche Substanz). Auf dieser Grundlage misst die Wertgröße, welchen Wert diese Arbeitsleistung hat. Beide Begriffe Tauschwert und Wertgröße sind also nicht synonym, aber der eine macht ohne den anderen auch keinen Sinn. Denn Tauschwerte erscheinen als das quantitative Verhältnis der Waren zueinander in einer bestimmten Wertgröße (also auf der Grundlage der Wertbestimmung eine bestimmte Menge gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit).

    4) Kann eine Dienstleistung eine Ware im Marxschen Sinne sein?

    Ist zum Beispiel ein psychologisches Gespräch eine Ware?

    Sabine Nuss und Ingo Stützle

    Ja, auch ein psychologisches Gespräch kann eine Ware sein, wenn es im Tausch gegen Geld angeboten wird. Ob etwas eine Ware sein kann oder nicht, hängt nicht an der stofflichen Beschaffenheit der Sache ab, also nicht von der Frage, ob es sich um eine feste Materie handelt, wie ein Tisch oder ob es sich um eine Dienstleistung handelt, wie eine Taxifahrt oder ein Friseurbesuch. Die Warenform ist gegenüber dem stofflichen Inhalt gleichgültig. Der Unterschied zwischen gegenständlicher Sache und Dienstleistung liegt lediglich darin, dass bei der Sache die Produktion und die Konsumtion auseinander fallen können (die produzierte Hose kann lange im Lager liegen, bevor sie verkauft und dann tatsächlich genutzt wird), während bei der Dienstleistung die Produktion und die Konsumtion zusammen fallen (bei der Taxifahrt wird diese Dienstleistung gleichzeitig angeboten und genutzt).

    Thomas Sablowski

    Ja. Waren sind Arbeitsprodukte, die privat für den Austausch auf dem Markt produziert werden. Diese Arbeitsprodukte können auch Dienstleistungen sein. Entscheidend ist nicht der stoffliche Charakter der Arbeitsprodukte, sondern ihre gesellschaftliche Form. In einem Manuskript von 1857/58 („Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ kritisiert Marx Adam Smith, dass er „die Vergegenständlichung der Arbeit etwas zu grob auffaßt als Arbeit, die sich in einem handgreiflichen Gegenstand fixiert“ (MEW 42, 735). Im Kontext seiner Reflexion über produktive und unproduktive Arbeit bringt Marx etwa das Beispiel des Lehrers in einer Privatschule, dessen Arbeit die Warenform annimmt: „Steht es frei, ein Beispiel außerhalb der Sphäre der materiellen Produktion zu wählen, so ist ein Schullehrer produktiver Arbeiter, wenn er nicht nur Kinderköpfe bearbeitet, sondern sich selbst abarbeitet zur Bereicherung des Unternehmers. Dass letzterer sein Kapital in einer Lehrfabrik angelegt hat, statt in einer Wurstfabrik, ändert nichts an dem Verhältnis.“ (MEW 23, 532)

    Ist zum Beispiel ein psychologisches Gespräch eine Ware?

    Wenn dieses Gespräch auf dem Markt als Ware angeboten wird, ja (s.o.).

    Michael Heinrich

    Der Unterschied von Dienstleistung und stofflichem Produkt besteht darin, das bei der Dienstleistung Produktion und Konsumtion zusammenfallen, beim stofflichen Produkt nicht. (Genaueres dazu, findet sich erst im zweiten Band des „Kapital“, vgl. auch „Wie das Marxsche Kapital lesen“ S.82). Für Produkte und Dienstleistungen gilt gleichermaßen: sie werden genau dann zur Ware, wenn sie verkauft werden. Ob etwas Produkt oder Dienstleistung ist, ist ein stofflicher Unterschied. Ob etwas Ware ist oder nicht, ist eine gesellschaftliche Bestimmung.

    Ist zum Beispiel ein psychologisches Gespräch eine Ware?

    Kommt drauf an, wenn dieses Gespräch verkauft wird (ich oder meine Krankenkasse zahlt für dieses Gespräch) dann ist es eine Ware, führe ich dieses Gespräch mit einem Bekannten, ohne zu bezahlen, ist es keine Ware.

    Alex Demirović

    Ja. Der Warencharakter ist ein gesellschaftliches Verhältnis und keine dingliche Eigenschaft. Etwas (die Arbeitskraft eines Menschen, der Mensch selbst, ein Gegenstand, eine Handlung) wird zur Ware, weil auf dem Markt zum Tausch angeboten. Unter Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion wird alles zur Ware, was Kapital verwertet. Von entscheidender Bedeutung ist, daß die menschliche Arbeitskraft selbst zur Ware wird, die Form der Lohnarbeit annimmt.

    5) Produzieren Maschinen, die von Maschinen hergestellt wurden, Gebrauchswerte ohne Tauschwert herzustellen?

     

    Sabine Nuss und Ingo Stützle

    Ja, es gilt ja generell: Maschinen "produzieren" überhaupt keinen Wert und damit auch keinen Tauschwert. Menschliche Arbeitskraft ist die einzige wertbildende Quelle. Im strengen Sinne geht Marx jedoch erst im 13. Kapitel auf die Frage ein, welchen Einfluss eingesetzte Maschinen auf den Produktionsprozess haben. Dort geht Marx dann auch nochmals darauf ein, wie eingesetzte Maschinen den Wert der produzierten Waren (und damit auch von Maschinen) beeinflussen.

    Aber bei der Frage scheint auch die Vorstellung oder Vision mitzuschwingen, dass es Maschinen geben kann, die ohne menschliche Arbeit funktionieren und ohne Einsatz von Arbeitskraft produzieren können. Das ist jedoch nicht vorstellbar, da es nicht nur Kontrolle, Wartung und Reparatur der Maschinen notwendig ist, sondern es immer auch ein "in Gang setzen" der Maschinen bedarf.

    Thomas Sablowski

    Maschinen alleine produzieren gar nichts. Es gibt auch keine Maschinen, die nur von Maschinen, ohne Zutun von Menschen, hergestellt wurden. Marx argumentiert im fünften Kapitel des ersten Bandes des „Kapital“, dass jeder Produktionsprozess – unabhängig von seiner gesellschaftlichen Form - auf der Kombination von mehreren Elementen beruht: Arbeitern, Arbeitsgegenständen und Arbeitsmitteln. Unfertige Maschinen im Prozess ihrer Herstellung sind Arbeitsgegenstände. Fertige Maschinen, die zur Produktion von Produkten eingesetzt werden, sind Arbeitsmittel. An dem prinzipiell notwendigen Einsatz von menschlicher Arbeit ändert auch die zunehmende Automation nichts: „Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit daher eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln.“ (MEW 23, 57)

    In einem früheren Manuskript von 1857/58 („Grundrisse“) antizipiert Marx allerdings eine Grenzsituation, in der die Arbeiter nur noch indirekt tätig sind, indem sie Maschinensysteme beaufsichtigen (vgl. MEW 42, 600f). Er geht davon aus, dass dann die auf dem Tauschwert beruhende Produktion von Waren aufgehoben wird. Der Tauschwert ist dem einzelnen Produkt nicht mehr zurechenbar, er verschwindet. Die Warenproduktion (d.h. die Produktion privater Produzenten) wird dann von einer gemeinschaftlichen Produktionsweise abgelöst, d.h. die Produzenten legen gemeinsam fest, was mit welchen Methoden produziert werden soll, wie die Rohstoffe, die notwendige Arbeit und die Arbeitsprodukte verteilt werden sollen. Die Arbeitsprodukte werden nicht auf einem Markt ausgetauscht, sondern direkt angeeignet. Die Arbeitsprodukte sind dann also keine Waren mehr, d.h. sie haben keinen Tauschwert, sondern sind nur noch Gebrauchswerte. Die Automation hebt demnach also nicht die Arbeit schlechthin auf, aber die Waren produzierende Arbeit bzw. Lohnarbeit als eine bestimmte gesellschaftliche Form der Arbeit.

    Michael Heinrich

    Wenn etwas verkauft wird, dann ist es Ware und besitzt Tauschwert (nämlich das, was ich im Tausch dafür erhalte). Wenn in den Produktionsprozess der Ware menschliche Arbeit eingeht, dann ist diese Arbeit wertbildend (wobei das Ausmaß, in dem diese Arbeit wertbildend ist an gesellschaftliche Durchschnittsverhältnisse (siehe oben erste Frage) gekoppelt ist und erst im Tausch festgestellt wird. Gäbe es wirklich ein vollautomatisches Maschinensystem, das uns mit allem Nötigen versorgt und das sich auch selbst repariert und beaufsichtigt, dann würde alles ohne menschliche Arbeit laufen, dementsprechend hätten die getauschten Waren zwar Tauschwert aber keinen Wert. Aber warum soll in einem derartigen Schlaraffenland noch getauscht werden?

    Alex Demirović

    Die Unterstellung in der Frage ist heikel: Ist unterstellt, daß die Maschinen auch selbsttätig die Produkte erfinden, die sie erzeugen? In diesem Fall könnte es sein, daß Maschinen keine Gebrauchswerte mehr für Menschen erzeugen. Oder sind Menschen beteiligt bei der Erstellung der Programme, nach denen Maschinen operieren, und bestimmen die Menschen die Ziele der maschinellen Produktion? In diesem Fall kann angenommen werden, daß nicht notwendigerweise, aber ziemlich wahrscheinlich Gebrauchswerte erzeugt werden. Ob ein Gegenstand – egal wie er hergestellt wurde – einen Gebrauchswert hat, darüber entscheiden die Menschen, die ihn nutzen wollen. Würde man es anders sehen, wäre eine Emanzipation vom Kapitalismus undenkbar. Denn dann wäre der Tauschwert- und Warencharakter an die Maschinenproduktion gebunden. Das ist nicht der Fall, es kann maschinengefertigte Gebrauchswerte geben, die keinen Tauschwert mehr haben. Unter kapitalistischen Bedingungen geht es um die Verwertung von Kapital, es geht also nicht primär um die Befriedigung von Bedürfnissen. Der Gebrauchswert eines Produkts ist nur insofern von Interesse für den Warenproduzenten, wie er seine Ware vermarkten, also den Wert der Ware realisieren will, so daß das vorgeschossene Kapital plus ein Mehrwert an ihn zurückläuft. Insofern haben die Produkte einer vollautomatischen Produktion unter kapitalistischen Verhältnissen auch einen Tauschwert. Der Tauschwert ist eben ein gesellschaftliches Verhältnis, in dem sich die Produzenten als Besitzer von Waren gegenübertreten, um diese zu tauschen.

    6) Was ist "einfache" und was ist "komplizierte Arbeit"?


    Thomas Sablowski

    Marx geht davon aus, dass es qualitativ verschiedene Arbeiten gibt („komplizierte“ und „einfache“ Arbeit), die auch in unterschiedlichem Maße zur Wertbildung beitragen: Komplizierte Arbeit schafft mehr Wert als einfache Arbeit. Dies ist eine empirische Feststellung: Die Produkte komplizierter Arbeit sind in der Regel teuer als die Produkte einfacher Arbeit, so dass komplizierte Arbeit offensichtlich als multiplizierte einfache Arbeit gilt. Niemand legt jedoch fest, was komplizierte und was einfache Arbeit ist bzw. wie viel Wert die jeweilige Arbeit pro Zeiteinheit schafft. Dieses Geltungsverhältnis etabliert sich, wie Marx schreibt, „hinter dem Rücken der Produzenten“ – durch den Austausch der Arbeitsprodukte auf dem Markt. Im weiteren Verlauf der Darstellung geht Marx nicht näher auf diesen Prozess der „Reduktion“ von komplizierter Arbeit auf einfache Arbeit ein, vielmehr weist er darauf hin, dass er bei seinen Ausführungen immer homogene, einfache Arbeit unterstellt.

    Michael Heinrich

    Im Kapital-Lesekreis der FHTW ist eine Frage aufgekommen, die wir lange und kontrovers diskutiert haben. Zentrum der Diskussion war eine Textpassage auf S.59: „Kompliziertere Arbeit gilt nur als potenzierte oder vielmehr multiplizierte einfache Arbeit, so dass ein kleineres Quantum komplizierter Arbeit gleich einem größeren Quantum einfacher Arbeit.“ Die Fragen, die sich für uns daraus ergaben, waren: Wer legt fest, was komplizierte und was einfache Arbeit ist? Marx schreibt einige Seiten davor, dass die Einheit der Arbeit die Arbeitszeit ist. Wenn nun eine komplizierte Arbeit genauso lange dauert wie eine einfache, muss das Produkt doch auch den gleichen Wert haben. Wie wird also zwischen komplizierter und einfacher Arbeit unterschieden?

    Marx schreibt auf S.59, dass eine Stunde komplizierter Arbeit in höherem Maße wertbildend ist als eine Stunde einfacher Arbeit. Gleich lange Arbeitszeiten bilden also nicht automatisch gleich großen Wert (das wurde auf S.53 auch schon für den Unterschied von individuell verausgabter Arbeit festgehalten, wer langsamer arbeitet bildet nicht mehr Wert, es zählt nur die „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“). Wenn Marx von der Stunde als Maßeinheit der Arbeit spricht, so muss man unterscheiden von welcher Arbeit Marx spricht, von konkreter oder von abstrakter Arbeit. Beobachten und mit der Uhr messen, können wir nur die individuell verausgabte konkrete Arbeitszeit (1 Stunde Tischlerarbeit des Tischlers X). Wertbildend ist aber abstrakte Arbeit, formal können wir hier zwar auch von Stunden als Maßeinheit sprechen, aber diese lassen sich nicht dadurch ermitteln, dass man sich irgendwo mit der Stoppuhr hinstellt: abstrakte Arbeit setzt die im Tausch stattfindende Reduktion der qualitativ unterschiedlichen Gebrauchswerte auf qualitativ gleiche Werte voraus (siehe Antwort zu konkreter und abstrakter Arbeit). Wer setzt nun fest, was einfache und was komplizierte Arbeit ist? Marx spricht auf S.59 von einem „gesellschaftlichen Prozess hinter dem Rücken der Produzenten“. Es handelt sich nicht um eine Instanz, die mit Bewusstsein festsetzt, was komplizierte und einfache Arbeit ist, sondern um einen anonymen, unbewussten gesellschaftlichen Prozess, der dieses Resultat hervorbringt. Im 5. Kapitel erwähnt Marx zwei Faktoren, die dabei eine Rolle spielen: die Kosten der Qualifikation der Arbeitskraft und „Illusion“, was ich mit gesellschaftlichem Vorurteil übersetze (211/212 und 212, Fußnote18).

    Alex Demirović

    (nennt diesen Punkt in seiner Antwort „Einfache und zusammengesetzte Arbeit“

    Der Wert eines Produkts ergibt sich aus der zu seiner Herstellung gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit. Auch die Arbeitskraft der Individuen ist unter kapitalistischen Bedingungen eine Ware. Also ist auch der Wert dieser Ware bestimmt durch die zu ihrer Erzeugung gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit. Um die Arbeitskraft eines Individuums, das Mülleimer leert, herzustellen, ist weniger gesellschaftliche Arbeitszeit notwendig als zur Herstellung der Arbeitskraft eines Arztes. Dies gilt unter – sagen wir – durchschnittlichen Bedingungen. Es kann aber aufgrund von besonderen Umständen zu einem Überschuss an Ärzten und einem Mangel an Müllmännern kommen. Dann wurde mehr gesellschaftliche Arbeitszeit für die Herstellung der Ware „Arzt“ eingesetzt als gesellschaftlich durchschnittlich notwendig. Der Wert dieser Ware „ärztliche Arbeitskraft“ sinkt. Was als notwendig gilt, definiert niemand von oben her, sondern erweist sich erst am Markt durch alle Tauschvorgänge hindurch – also im Durchschnitt -, und kann deswegen auch erst nachträglich festgestellt werden. Zum Wert einer Ware tragen diese Arbeiten, die ihrerseits jeweils einen unterschiedlichen Wert haben, in unterschiedlichem Maße bei. Als Beispiel: die Arbeitszeit von zehn Stunden eines ungelernten Akkordarbeiters entspricht dem Wert von 1 Stunde Ingenieursarbeit. Insofern muss der angelernte Arbeiter zehnmal länger arbeiten, um dieselbe Wertmenge zu erzeugen. Wird die Ingenieursarbeit um das Doppelte produktiver, weil eine Software bestimmte Berechnungen und Zeichnungen übernehmen kann, dann verringert sich der Tauschwert der Arbeitskraft des Ingenieurs auf die Hälfte. Soll der Wert seines Produkts gleich groß bleiben, muss er nun zweimal so lange arbeiten.

    Die einfache und komplizierte Arbeit läßt sich unter werttheoretischen und technischen Gesichtspunkten betrachten. Nach technischen Gesichtspunkten gibt es gleichfalls eine einfache und zusammengesetzte Arbeit. Einfache Arbeiten wären basale Arbeitsschritte ohne große Vorbereitung, zusammengesetzte Arbeiten solche, in die aus technischen Gründen viele weitere Arbeitsgänge eingehen. Die kapitalistische Produktionsweise hat durchaus eine Tendenz, solche zusammengesetzten Arbeiten zu analysieren und zu zergliedern, um sie dann rationalisieren und besser verwerten zu können. Was als einfache und was als komplizierte Arbeit gilt, hat so gesehen einen technischen Aspekt, einen Aspekt von Herrschaft (wer entscheidet, was als zusammengesetzt gilt und wie die Arbeiten zusammengesetzt werden), schließlich einen Verwertungsaspekt.

    7) Im letzten Absatz auf Seite 60 steht in Zeile 4: „Dennoch kann der steigenden Masse des stofflichen Reichtums ein gleichzeitiger Fall seiner Wertgröße entsprechen.“ Warum steht hier „kann“?

     

     

    Sabine Nuss und Ingo Stützle

    Weil es nicht so sein "muss". Bisher wird der Wert einer Ware nur unter dem Blickwinkel der abstrakten Arbeit betrachtet, die sich "unmittelbar" geltend macht. Ausgeblendet werden bisher die Rohstoffe die ganz oder auch nur teilweise in die Produktion eingehen; ausgeblendet wird auch, dass angewandte Maschinen im Gebrauch Wert abgeben (kommt im 13. Kapitel). Verändern sich hier die Wertverhältnisse trotz steigender Produktivität (Wert der Rohstoffe, aufgewendete Energie etc.), so kann es sein, dass der stoffliche Reichtum größer wird und der Wert der Ware ebenso steigt. Das führt schließlich zu der Frage, unter welchen Bedingungen das Einzelkapital produktivere Maschinerie einsetzt und wann nicht. Diese Frage kann aber an dieser Stelle der Darstellung noch nicht beantwortet werden.

    Thomas Sablowski

    Dies erläutert Marx in den folgenden Sätzen. Wenn die Masse des stofflichen Reichtums steigt, so kann dies prinzipiell verschiedene Ursachen haben bzw. mit unterschiedlichen Bewegungen der Produktivkraft der Arbeit zusammenhängen:

    1. Bei gleich bleibender Produktivkraft der Arbeit ist proportional mehr Arbeit notwendig, um mehr stofflichen Reichtum zu produzieren, d.h. die steigende Masse des stofflichen Reichtums stellt dann auch eine proportional größere Masse an Wert dar.

    2. Entsprechendes gilt, wenn die Produktivkraft der Arbeit sinkt: Dann ist überproportional mehr Arbeit notwendig, um eine größere Menge an Gebrauchswerten zu produzieren, d.h. die Wertgröße dieser Menge von Gebrauchswerten steigt überproportional.

    3. Steigt die Produktivkraft der Arbeit in demselben Maß, in dem mehr stofflicher Reichtum produziert wird, so bedeutet dies, dass die notwendige Arbeit zur Produktion dieses stofflichen Reichtums gleich bleibt. Damit bleibt auch die Wertgröße konstant, die dieser stoffliche Reichtum repräsentiert. Die einzelnen Elemente dieser Masse des stofflichen Reichtums repräsentieren jetzt weniger Wert, weil sie in kürzerer Zeit hergestellt wurden, aber der Wert der Masse als Ganzes bleibt gleich, weil der Arbeitsaufwand für die Produktion dieser Menge insgesamt gleich geblieben ist.

    4. Steigt die Produktivkraft der Arbeit überproportional, so wird eine größere Menge an stofflichem Reichtum nicht nur in derselben Arbeitszeit wie vorher produziert, sondern sogar in kürzerer Arbeitszeit. In diesem Fall sinkt nicht nur der Wert des einzelnen Produkts, sondern auch der Wert der ganzen Masse an Produkten. Auf diesen Fall bezieht sich das „kann“.

    Michael Heinrich

    Die doppelte Masse an Gebrauchswerten (die getauscht wird) „kann“ einen geringeren Wert darstellen, als früher die einfache Masse, wenn sich in der Zwischenzeit die Produktivität der Arbeit mehr als verdoppelt hat (es ist dann für die doppelte Masse weniger Arbeitszeit zur Produktion nötig als früher für die einfache Masse). Hat sich die Produktivität nicht verdoppelt, dann stellt die doppelte Masse einen größeren Wert da als früher die einfache Masse.

    8) Was ist unter selbstständigen und voneinander unabhängigen Privatarbeiten zu verstehen?

     

    Sabine Nuss und Ingo Stützle

    Warenproduktion kennzeichnet sich dadurch aus, dass privat voneinander unabhängige Produzenten Dinge produzieren, um sie dann gegen Geld zu tauschen. Es findet keine Absprache unter den Produzenten statt, wieviele Menschen in der Gesellschaft wieviele Autos wollen und wieviele dann tatsächlich von der Gesellschaft produziert werden (nach ökologischen Kriterien zum Beispiel). Vielmehr produzieren die Produzenten anonym für einen unbekannten Bedarf, für einen anonymen Markt - eben privat und voneinander unabhängig.

    Michael Heinrich

    Arbeiten, die ohne Koordination mit den anderen Produzenten ausgeführt werden: ich entscheide was und wieviel ich produziere und trage es auf den Markt. Produziere ich hingegen in Absprache mit anderen und ist das Produkt ein Gemeinsames, dann haben wir keine Privatproduktion (das arbeitsteilige Kaffeekochen und Kuchenbacken für die gemeinsame Konsumtion ist kein Privatarbeit sondern gemeinsame Arbeit).

    Alex Demirović

    Menschen arbeiten privat und unabhängig voneinander, wenn sie über ihre Arbeit frei disponieren, also entscheiden, was sie herstellen wollen und in welcher Menge, wie viele Ressourcen sie einsetzen, auf welche Weise und wie lange sie arbeiten wollen. Erst nachdem sie einen Gegenstand erzeugt haben, gehen sie auf den Markt und bieten ihn an. Sie können auch von vornherein einplanen, eine große Menge ein und derselben Ware zu produzieren und auf dem Markt anzubieten. Doch wissen sie nicht, wie viel Nachfrage es gibt und viele Anbieter des gleichen Produkts ebenfalls auf dem Markt erscheinen werden. Es kann also vorkommen, daß die einzelnen Anbieter als einzelne oder auch zusammen entweder weniger oder mehr erzeugen als notwendig, um die Nachfrage zu befriedigen. Die Folge davon ist, daß sie länger gearbeitet haben als notwendig. Für den einzelnen Anbieter des Produkts ist dies ein Verlust an freier Zeit, an Rohstoffen und ein Verschleiß der Werkzeuge, aber auch für die Gesellschaft ist es ein Verlust. Denn die Arbeitszeit dieses Individuums ist nicht nur für es selbst, sondern auch für alle anderen verloren gegangen. Es hat genau genommen gesellschaftliche Arbeitszeit verschwendet. Dies liegt daran, daß es nur für sich gearbeitet und sich nicht mit anderen darüber verständigt hat, was diese benötigen. Hätte der Produzent das gewusst, hätte er früher aufhören können zu arbeiten, er hätte Material eingespart, seine Werkzeuge und Maschinen geschont, hätte sich erholen oder etwas anderes arbeiten können. Marx analysiert also methodisch aus der Perspektive der gesamten Arbeitskraft der Gesellschaft (des Gesamtarbeiters und des gesamten Produktionsapparats, nicht aus der Perspektive von Individuen oder einzelnen Gruppen) (vgl. MEW 23, 53).

    Wenn der Staat Produkte oder Dienstleistungen anbietet, die niemand benötigt, dann handelt es sich ebenfalls um verlorene gesellschaftliche Arbeitszeit, denn sie hätte besser für anderes verwendet werden können. Da der Staat aber über gesellschaftliche Ressourcen verfügt, kann er unter Umständen weiter ein Produkt und eine Dienstleistung anbieten, obwohl niemand sie haben will. Das ist Verschwendung. Doch der Staat verfügt über Steuergelder und muss sich bei dem Angebot von Produkten und Dienstleistungen um die Nachfrage, den Markt und die dort geltenden Preise nicht unbedingt kümmern. Er kann also Waren erzeugen und sie verrotten lassen oder sie zu Niedrigpreisen exportieren (wie z.B. Getreide oder Fleisch). Dies belastet die Steuerzahler allgemein; in einigen Fällen die Unternehmer auch direkt, weil der Staat ein Produkt zu niedrigeren Preisen anbietet als ein Unternehmen dies könnte. Für Liberale ist das ein Stein des Anstoßes ihrer Staatskritik; und sie ist manchmal auch nicht falsch. Die Liberalen sehen im Markt einen Kontrollmechanismus, da der Hersteller eines nicht benötigten Produkts seine Preise senken muss und am Ende bankrott sein kann. Falsch an der liberalen Kritik ist zweierlei. Erstens kann der Staat Produkte und Dienstleistungen zur Verfügung stellen, die der Markt nicht, nur unzureichend oder für die einzelnen zu teuer zur Verfügung stellen würde. Dies ergibt sich aufgrund des politischen Willens, diese Produkte oder Dienstleistungen öffentlich zur Verfügung zu stellen. Würden sie nur als Waren angeboten, hätte dies zur Folge, daß nur Zahlungsfähige in ihren Genuss kämen, oder daß sie überhaupt nicht angeboten würden (wegen zur hoher Kosten und unklarer Verwertungsaussichten). Zweitens stellt der Liberalismus dem Staat den Markt entgegen und behauptet, letzterer sei effizient. Doch das ist so wenig der Fall wie beim Staat. Auch am Markt gibt es ständig Fehlallokation, Verschwendung, Zerstörung menschlicher Arbeitszeit oder künstlich erzeugte Knappheit. Die emanzipatorische Perspektive gegenüber dem Markt ist nicht der Staat, sondern eine Produktion nach dem Bedarf der Menschen und aufgrund freier, gemeinsamer Koordination, so daß Verschwendung menschlicher Lebenszeit für das Interesse und unter dem Diktat anderer ein Ende hat.

    9) Kann dies (selbständige und voneinander unabhängige Privatarbeiten) auf Produkte, die vom Staat produziert werden, angewendet werden?

    siehe auch Antwort von Alex Demirović zu Privatarbeiten

    Sabine Nuss und Ingo Stützle

    Nein. Marx bezeichnet mit selbständige und voneinander unabhängige Privatarbeiten ja gerade die warenproduzierende Arbeit für einen anonymen Markt. Ob und in wie weit die aufgewendete Arbeit überhaupt Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit wird, stellt sich erst im Nachhinein heraus. Wenn auf dem Markt Geld in einer bestimmten Höhe bezahlt wird. Bei Arbeiten, die vom Staat organisiert und bezahlt werden steht hingegen der gesellschaftliche Charakter schon vorher fest. Der Staat stellt Gebrauchswert als Nicht-Waren zur Verfügung. Diese werden als öffentliche Güter bezeichnet. Das Set an öffentlichen Gütern ist nicht fix Vielmehr sind es je spezifische Konstellationen und Kräfteverhältnisse, die den Staat dazu bewegen Gebrauchswerte bereitzustellen, die nicht auf dem Markt verkauft werden. Ebenso flexibel sind die Einschränkungen und Bedingungen der Bereitstellung (Bedarfsprüfung, Gebühren etc.)

    Das "Procedere" der Feststellung des gesellschaftlichen Charakters ist auch kein Marktprozess, sondern ein politischer Prozess. Dieser Prozess ist staatlich und bürokratisch vermittelt und damit noch lange nicht herrschaftsfrei. Ebenso müssen diese Arbeiten bezahlt werden. Das dafür nötige Geld organisiert sich der moderne, kapitalistische Staat durch Steuern, die wiederum eine Zwangsabgabe darstellen.

    Anwendbar ist die marxsche Bezeichnung hingegen für staatlichen Betriebe, die wie Marktteilnehmer sozusagen als private Unternehmen Waren für den Markt produzieren und sich de facto nicht anders verhalten als andere Marktteilnehmer. Nur dass der Eigentümer (oder der mehrheitliche Anteilseigner) des Unternehmens der Staat ist.

    Michael Heinrich

    Privatarbeit wird nicht nur von einzelnen Menschen verausgabt, sondern auch von kapitalistischen Unternehmen. Die einzelnen Arbeitskräfte innerhalb der Fabrik arbeiten nicht privat, der Zusammenhang ihrer Arbeit wird durch den Kapitalisten hergestellt. Die Gesamtarbeit des Unternehmens ist aber im Verhältnis zur Gesamtarbeit anderer Unternehmen „Privatarbeit“. Produziert eine staatseigene Firma Produkte oder Dienstleistungen, die am Markt verkauft werden, dann hat auch diese staatliche Firma „Privatarbeit“ verausgabt. Anders verhält es sich mit den staatlichen Leistungen, die nicht verkauft werden: Verwaltung, Gerichte, Polizei etc. Sie sichern die allgemeinen Bedingungen der Reproduktion einer kapitalistischen Gesellschaft – unter der Kontrolle des Staates.

    10) Warum ist die gesellschaftliche Teilung der Arbeit Existenzbedingung für die Warenproduktion, die Warenproduktion aber nicht Existenzbedingung für die gesellschaftliche Teilung der Arbeit?

     

    Sabine Nuss und Ingo Stützle

    Kapitalistische Warenproduktion zeichnet sich dadurch aus, dass privat voneinander unabhängige Produzenten Dinge produzieren, um sie dann gegen Geld zu tauschen. Tausch setzt somit Arbeitsteilung voraus (weil ich selbst etwas nicht produzieren kann, kaufe ich es mir bzw. gebe ich Geld im Tausch dafür). Hingegen kann gesellschaftliche Arbeitsteilung auch stattfinden, ohne dass die Dinge als Ware getauscht werden müssen. Es ließe sich eine Gesellschaft denken, die nicht tauscht, sondern die die Produktion verschiedener Produkte in verschiedenen Sparten in Kooperation untereinander abspricht und entsprechend organisiert. Arbeitsteilung braucht also nicht unbedingt Warenproduktion.

    Ebenso ist es möglich, dass die arbeitsteilig hergestellten Produkte nicht die Form der Ware, sondern die Form der Zwangsabgabe annehmen. Es findet als kein Tausch zwischen formal gleichen Warenbesitzern statt, sondern ein personales Herrschaftsverhältnis erlaubt es einem Herren unter Androhung oder Einsatz von Gewalt einem Knecht die von ihm produzierten Dinge (und nicht Waren) anzueignen. Die hergestellten Produkte werden zwar arbeitsteilig hergestellt, aber nicht für den Tausch auf dem Markt. Auch hier besteht Arbeitsteilung, aber statt Tausch von Waren und Geld existieren persönliche Herrschaftsverhältnisse, (potenzielle) Gewalt und Zwangsabgaben.

    Michael Heinrich

    Wenn ich Kaffee koche und Du den Kuchen backst, wir dann anschließend gemeinsam konsumieren ohne zu tauschen, hatten wir Arbeitsteilung ohne Warenproduktion.

    Alex Demirović

    Teilung der Arbeit bedeutet, daß bestimmte Menschen bestimmte Aufgaben übernehmen. Das ist ein wesentliches Merkmal wohl der allermeisten historischen Gesellschaften. Würden Menschen nicht arbeitsteilig miteinander kooperieren, müsste jedes einzelne Individuum alles verrichten. Das würde bedeuten, daß Menschen auf dem primitivsten Niveau leben würden. Gesellschaftliche Arbeitsteilung ist eine Grundlage für das Überleben der Menschen. Doch war sie immer auch die Grundlage für die Ausübung von Herrschaft weniger über viele. Denn Wenige haben im Namen der Selbsterhaltung des Kollektivs die Führungsaufgaben übernommen und die anderen bei der Arbeit kommandiert (gestützt auf Gewalt und Konsens (Religion, Leistungsglaube)). Damit haben sie für sich das Recht und die Macht in Anspruch genommen, sich von der Belastung durch körperliche Arbeit frei zu stellen und in besonderem Maße die Früchte der gemeinsamen Arbeit für sich anzueignen. Die gesellschaftlich notwendige Arbeitsteilung diente ihnen dann zur Einrichtung einer solchen Art der Arbeitsteilung, in der sie dann Privilegien genossen. Produktion von Gebrauchswerten für den Tausch hat es schon lange vor der kapitalistischen Produktionsweise gegeben. Aber erst auf einer hohen Stufe der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist umfassende Warenproduktion im kapitalistischen Sinn möglich; erst jetzt werden alle (oder jedenfalls sehr viele) Gebrauchswerte nur als Tauschwerte und für einen anonymen Markt produziert (also nicht konkrete Gebrauchswerte für konkrete Nachfrager). Mit der kapitalistischen Warenproduktion wird dann auch die gesellschaftliche Arbeitsteilung auf bestimmte Weise reorganisiert. Denn nun werden viele Menschen zu Lohnarbeitern, die über keinerlei Produktionsmittel verfügen, sondern nur über ihre Arbeitskraft, die sie als Ware auf dem Arbeitsmarkt anbieten. Frei sind die Lohnarbeiter nicht nur deswegen, weil sie keine Produktionsmittel mehr haben; frei sind sie auch, weil sie keinem persönlichen Autoritätsverhältnis mehr unterworfen sind. Sie können sich frei bewegen und sind an keine besondere Berufsausübung gebunden (wie vordem Bauern oder zünftige Handwerker). Das kann eigene Probleme schaffen, denn viele haben keinen genau definierten Beruf oder arbeiten nicht in diesem oder nur während bestimmter Phasen ihres Lebens. Es entsteht also, vermittelt über den ‚Arbeitsmarkt‘, die Unsicherheit, ob die eigene Arbeitskraft – in der besonderen Form einer beruflich fixierten Arbeitsvermögens – nicht eine überschüssige Ware ist, in die zu viel gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit eingegangen ist und die deswegen keinen oder nur einen so geringen Tauschwert hat, daß der mit dieser Arbeitskraft verbundene, sie als Ware anbietende Mensch von ihr nicht mehr leben kann. Die Arbeitsteilung ist also eine historisch vorgefundene Voraussetzung der Warenproduktion. Denn wenn alle Individuen nur für ihren eigenen Bedarf produzieren würden, hätten sie keinen Bedarf an den Produkten der anderen. Sie würden nicht oder nur gelegentlich tauschen. Es gäbe auch keine ArbeiterInnen, die auf dem Arbeitsmarkt ihre Arbeit deswegen anbieten, weil sie sonst keine Möglichkeit haben, sich zu erhalten. Erst wenn solche ArbeiterInnen vorhanden sind, kann Kapital durch die systematische Aneignung des lebendigen Arbeitsvermögens verwertet und akkumuliert werden. Wäre die Warenproduktion die Voraussetzung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, wäre eine emanzipierte Gesellschaft nicht denkbar. Denn dann würde die Überwindung der Warenproduktion beinhalten, daß es keine Arbeitsteilung mehr geben dürfte. Das ist ein beliebtes Argument, das Kritiker gern gegen Marx vorbringen, aber es ist eben falsch. Es geht Marx darum, eine neue Form der Arbeitsteilung zu entwickeln, in der die kooperativen Fähigkeiten der Menschen sich frei entfalten können und nicht dem Diktat von Privateigentümern unterworfen sind.

    11) Sind abstrakte Arbeit und konkrete Arbeit zwei voneinander getrennte Arbeiten, sind sie zwei Seiten derselben Medaille, oder lässt sich die abstrakte aus der konkreten Arbeit herleiten?

     

    Sabine Nuss und Ingo Stützle

    Die abstrakte Arbeit lässt sich nicht aus der konkreten "herleiten". Abstrakte Arbeit ist nichts stofflich-konkretes, nichts zum anfassen. Abstrakte Arbeit ist ein gesellschaftliches "Geltungsverhältnis". In dem Moment, in dem eine Ware tatsächlich verkauft wird, "gilt" die in ihr verkörperte konkrete Arbeit (diese Arbeit ist tatsächlich stofflich fassbar und konkret), auch als abstrakte Arbeit. Die privat verausgabte Arbeit gilt als unmittelbar austauschbar und als unmittelbar gesellschaftliche Arbeit (siehe hierzu die dritte Eigentümlichkeit S. 73 ).

    In dem Moment, in dem eine Ware NICHT verkauft wird, wo sie verschimmelt oder eben weggeworfen wird, war der Ware zwar konkrete Arbeit vorausgesetzt, der Tischler zum Beispiel produzierte mit seiner Tischlerarbeit einen Tisch, aber die Ware hat sich im Tausch nicht als Ware bewährt, es ist kein Wert gebildet worden, oder: die Tischlerarbeit wurde nicht anerkannt als Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Bei dem Tisch, der zwar als Ware produziert wurde, sich aber nicht verkauft hat, haben wir nur konkrete Arbeit, keine abstrakte. Abstrakte Arbeit drückt all jene Arbeiten aus, die in der arbeitsteiligen kapitalistischen Gesellschaft über die Tauschakte tatsächlich einen Abnehmer gefunden haben, das heißt, für andere produziert haben.

    Eine Abhängigkeit der abstrakten von der konkreten liegt in so weit vor, als dass die konkret-nützliche Arbeit nicht einfach einen Gebrauchswert, sondern einen Gebrauchswert für andere herstellen muss. Einen gesellschaftlichen Gebrauchswert. Ist dem nicht so, hat das hergestellte Ding auch keinen Wert und zwar weil es keinen Gebrauchswert hat.

    Michael Heinrich

    Konkrete Arbeit ist die Arbeit, die man beobachten kann. Verschiedene konkrete Arbeiten sind qualitativ unterschiedlich und bringen qualitativ unterschiedliche Gebrauchswerte hervor. Im Tausch werden diese qualitativ unterschiedlichen Gebrauchswerte gleichgesetzt, auf ihr Dasein als qualitativ gleiche „Wertgegenstände“ reduziert. In diesem Prozess des Tausches werden auch die qualitativ unterschiedlichen konkreten Arbeiten auf qualitativ gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit reduziert (52 mittlerer Absatz). Konkret menschliche Arbeit ist eine Existenzbedingung des Menschen (57), abstrakte Arbeit ist Resultat eines im Tausch stattfindenden Reduktionsprozesses. Explizit hält Marx dies in seinem Überarbeitungsmanuskript der 1. Auflage fest. Dort schreibt er: „Die Reduction der verschiednen konkreten Privatarbeiten auf dieses Abstractum gleicher menschlicher Arbeit vollzieht sich nur durch den Austausch, welcher Producte verschiedner Arbeiten thatsächlich einander gleichsetzt“ (MEGA II.6, S.41) Diesen Satz nahm Marx auch in die französische Übersetzung des ersten Bandes auf, die letzte von ihm selbst redigierte Fassung des ersten Bandes. (Manche Marxisten behaupten, abstrakte Arbeit sei ebenfalls etwas von der Gesellschaft unabhängiges und stützen sich dabei auf die Marxsche Bemerkung von abstrakter Arbeit als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im „physiologischen Sinn“ (61). Im physiologischen Sinn verausgabt auch der Neandertaler seine Arbeitskraft, insofern würden wir auch bei ihm abstrakte Arbeit finden. Diese Rede vom physiologischen Sinn taucht bei Marx aber nur an zwei Stellen auf, überwiegend argumentiert er ohne solche naturalistischen Bezüge (mehr dazu: „Wie das Marxsche Kapital lesen?“ S.101f und 177f).

    Alex Demirović

    Alle Arbeiten können nur konkrete Arbeiten sein. Niemand arbeitet unmittelbar abstrakt. Doch unter kapitalistischen Bedingungen wird die konkrete Arbeit gleichzeitig immer auch abstrakt. Denn um als gesellschaftliche Arbeit zu gelten, müssen die konkreten Arbeiten miteinander vergleichbar gemacht werden. Dieser Vergleich vollzieht sich am Markt. Die Tauschenden bestimmen den Tauschwert ihrer Produkte im Tausch, sie abstrahieren also von ihrer konkreten Arbeit und dem Gebrauchswert und begreifen den Gegenstand als eine Ware, die einen Tauschwert hat. Dieser wird als gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeit bestimmt, die in Zeiteinheiten gemessen wird. Die abstrakte Arbeit wird also nicht aus der konkreten Arbeit hergeleitet. Die abstrakte Arbeit ist das gesellschaftliche Verhältnis der Arbeitenden zueinander; dieses Verhältnis ist aber nicht direkt das Verhältnis der Individuen zueinander, der Produzenten, sondern ihrer Waren. Erst vermittelt über ihre Waren erfahren die Produzenten am Markt, ob ihre konkreten Arbeiten sich als gesellschaftlich nützlich erweisen.

    Konkrete Arbeit gibt es weltgeschichtlich immer, weil Menschen sich die Natur durch Arbeit aneignen; abstrakte Arbeit ist ein theoretischer Begriff und bestimmt einen Aspekt der Arbeiter in der kapitalistischen Produktionsweise. Mit diesem Begriff ist es möglich, den Vorgang zu bestimmen, der sich während des Austauschs von Waren vollzieht, nämlich der Vergleich der Produkte unter dem Gesichtspunkt, in welchem Maße für ihre Herstellung gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit aufgewendet wurde.

    12) Wie ist die Diskussion auf Seite 59 zu verstehen in Bezug auf die einfache Durchschnittsarbeit im Vergleich zur potenzierten einfachen Arbeit. Heißt dies, dass alle Arbeiten gleich sind? Ist z.B. die Arbeit eines Arztes mehr Wert als die eines Fabrikarbeiters?

     

    Michael Heinrich

    Marx spricht NICHT davon, dass die Arbeit etwas wert sei, sondern dass die Arbeit Wert bildet. Eine Stunde komplizierter Arbeit bildet mehr Wert als eine Stunde einfacher Arbeit. „Einfache Durchschnittsarbeit“ (Arbeit zu der alle Mitglieder einer Gesellschaft in der Lage sind, dieses Niveau wechselt historisch) nimmt Marx als Rechnungseinheit. Bildet die Arbeit eines Arztes in einer Stunde drei Mal so viel Wert wie eine Stunde einfacher Durchschnittsarbeit (die z.B. ein Hilfsarbeiter in einer Fabrik verrichtet), dann zählt jede Stunde Arztarbeit als drei Stunden einfacher Durchschnittsarbeit.

    2. Fragenrunde (Januar 2009)

     

    Antworten von: Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle , Alex Demirović, Klaus Peter Kisker, Wolfgang Fritz Haug und Frieder Otto Wolf

    1) Inwiefern sind Sklaven Sachen? (2. Kapitel: Frauen mit feurigem Körper). Handelt es sich dabei um "Teilzeitsklavinnen"? Unterscheidet Marx zwischen Sklaven und Lohnsklaven?


    Klaus Peter Kisker

    Sklaven sind Eigentum eines Menschen (Sklavenhalter). Es sind Sachen, da sie keine eigene Rechtspersönlichkeit haben. Sklaven wurden gekauft, verkauft, deshalb konnten sie als Ware auch als allgemeines Äquivalent herhalten (MEW23,S.83, „Die allgemeine Äquivalentform …kann jeder Ware zukommen“). Teilzeitsklaven oder –sklavinnen gibt es nicht, genau so wenig wie Lohnsklaven. Lohn als Preis der Arbeitskraft setzt den „doppelt freien Lohnarbeiter“ voraus, frei von persönlichen Bindungen und frei von eigenen Produktionsmitteln( dazu mehr im 17. Kapitel).

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Sklaven sind im Unterschied zu lohnabhängigen Arbeitskräften das Eigentum ihrer Besitzer, welche nach eigenem Belieben über sie, d.h. über ihre ganze Person, verfügen können. Sklaven verfügen über ihr eigenes Arbeitsvermögen also nicht wie formal gleiche und freie Warenbesitzer (Lohnabhängige), sind aber auch keine Sachen. Sie sind Menschen im vollen Besitz anderer Menschen. Die in der Fußnote anekdotisch aufgezählten "Frauen mit feurigem Körper" könnten Sexarbeiterinnen sein, die ihr Arbeitsvermögen bzw. ihre Dienstleistung wie jede/r andere Warenbesitzer auf dem Markt verkaufen. Eine weitere Doppeldeutigkeit kommt durch den Satz hinzu, auf den sich die Fußnote bezieht: "Wenn sie nicht willig, kann er Gewalt brauchen, in andren Worten, sie nehmen." Gemeint sind die willenlosen Waren (Dinge, die zu Markte getragen werden müssen); die Erwähnung in der Fußnote könnte darüber hinaus auf das Gewaltverhältnis anspielen, das nicht nur der Prostitution, sondern prinzipiell jeder verdinglichten Beziehung (Warentausch) zwischen Menschen innewohnt: kannst du nicht erfolgreich tauschen, bist du draußen. Zugleich ironisiert Marx die vermeintliche Frömmigkeit jener Zeit, zu der Sexdienste natürlich in eklatantem Widerspruch stehen. -- Marx spricht generell nicht von Lohnsklaven. Ihn interessieren primär die Lohnabhängigen im Kapitalismus, welche aber formal frei über ihre eigene Arbeitskraft verfügen und z.B. ein Arbeitsverhältnis "freiwillig" eingehen und kündigen können. Das kann ein Sklave nicht.

    2) Was genau meint Marx mit "Charaktermaske"? Ist es bei den herrschenden Produktionverhältnissen möglich, die Charaktermaske abzulegen? (z.B. außerhalb des Produktionszusammenhangs?)


    Klaus Peter Kisker

    Marx analysiert das Kapital und nicht die Unternehmer. Heute würde er vermutlich schreiben, die Unternehmer oder Manager sind Funktionäre, sie müssen der kapitalistischen Logik folgen. Tun sie das nicht, gehen sie Pleite oder sie werden entlassen.

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Charaktermaske bedeutet, dass im Kapitalismus die Menschen, weil sie über Warentausch miteinander in Beziehung treten, nicht einfach ausgehend von ihren individuellen, unmittelbaren und spontanen Bedürfnissen und Interessen handeln, sondern sich immer schon in vorgegebenen Rollen befinden, die ein bestimmtes Handeln als besonders rational belohnen: Der Kapitalist muss bei Strafe des Untergangs sein Kapital profitmaximierend verwerten, er muss gegen andere Kapitalisten konkurrieren und seine Waren erfolgreich über den Markt absetzen. Als Individuum kann er die Rolle "Kapitalist" zwar unterschiedlich ausfüllen, aus ihr aber nicht ausbrechen. Der lohnabhängige Arbeiter indes muss seine Ware Arbeitskraft möglichst vorteilhaft verkaufen, gegen andere Arbeiter konkurrieren und sich den diktierten Bedingungen am Arbeitsplatz beugen. Wichtig ist, dass es bei der Marxschen Analyse nicht um eine Kritik an den persönlichen Motiven der einzelnen Menschen geht, sondern um die Handlungsweisen und Strukturbedingungen, die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnend sind. Marx dazu: die handelnden Akteure - Käufer und Verkäufer von Waren auf dem Markt - sind "nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse, als deren Träger sie sich gegenübertreten." Vgl. hierzu auch das Vorwort zur 1. Auflage des Ersten Bandes, wo Marx einleitend schreibt: "Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag." Da die Charaktermaske nichts Physisches ist sondern ein soziales Verhältnis ausdrückt, kann man sie auch nicht ablegen wie eine echte Maske. Die Frage aber, welche Spielräume die sozialen Rollen ("Masken") für die in ihnen Handelnden eröffnen, ist eine sehr grundsätzliche zu dem Verhältnis von Struktur und Akteur und wird in den marxistisch inspirierten Sozialwissenschaften unterschiedlich beantwortet. Marx tendierte zu der Auffassung, dass man sich über die kapitalistischen Verhältnisse nur sehr begrenzt erheben könne und es daher ratsam sei, die Strukturen selbst abzuschaffen, so man die Charaktermasken ablegen und in unmittelbaren (nicht warenvermittelten) Austausch miteinander treten wolle.

    Alex Demirović

    Marx spricht zu Beginn des 2. Kapitels „Der Austauschprozeß“ davon, daß die „ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten“ (MEW 23, Kapital I, 100). Diese Stelle ist die prägnante Zusammenfassung des voranstehenden Arguments, daß die Dinge als Waren aufeinander nur bezogen werden können, wenn die Individuen sich als Warenbesitzer den Waren unterwerfen, sich also wechselseitig als Privateigentümer anerkennen: das ökonomische Verhältnis nimmt die Form eines Rechtsverhältnisses an, das als ein solches ein Willensverhältnis ist. Anerkennungsverhältnisse sind demnach untergeordnete oder abgeleitete Verhältnisse. Die Individuen werden zu Repräsentanten von Waren. Insofern spricht Marx von diesen Personen als Charaktermasken und davon, daß sie Personifikation der ökonomischen Verhältnisse sind. „Charaktermaske“ wurde oftmals politisch-normativ verstanden im Sinne von: jemand ist nur eine Charaktermaske. Dies kann verstanden werden als der Vorwurf, daß jemand nur noch eine ökonomische Funktion verkörpere, nichts an Individualität, Subjektivität oder Persönlichkeit übrig geblieben sei. Kritiker von Marx werfen diesem deswegen vor, er entmenschliche die Verhältnisse, sehe in den Vertretern des Kapitals nur noch Charaktermasken und schaffe damit die entmoralisierende Grundlage dafür, Menschen zu terrorisieren. Das aber hieße: sie verantwortlich machen, den Begriff der Charaktermaske als eine negative moralische Kategorie zu verstehen.

    Ich meine, daß Marx‘ Überlegung eher in eine andere Richtung geht. Denn in einer ähnlich lautenden Formulierung auf S. 16 (MEW 23) heißt es: Bei den Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer handele es sich um „Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“ Wenn die Individuen also ökonomischen Kategorien die Gestalt und Form einer Person geben, sind sie als einzelne nicht für die Verhältnisse verantwortlich, sondern deren Geschöpf. Marx betont dies so nachdrücklich offensichtlich, um moralisierende und voluntaristische Mißverständnisse auszuräumen: Die Verhältnisse werden nicht dadurch geändert, daß man eine Person mit Gewalt aus dem Wege räumt oder versucht, an es moralisch zu appellieren. Diese Verhältnisse sind nicht das Ergebnis einer Willens-, einer moralischen Entscheidung oder individueller psychologischer Eigenschaften (wie neuerdings die Finanzmarktkrise aus der Gier der Manager abgeleitet wird). Die Menschen handeln zwar frei, aber historisch bislang noch nicht unter selbstgewählten Verhältnissen. Deswegen nimmt die Freiheit eine spezifische Form an, die Freiheit einer kleinen Gruppe von Produktionsmittelbesitzern.

    Marx deutet auf dieser Grundlage dann im weiteren eine Theorie des Subjekts an. Erst unter modernen kapitalistischen Verhältnissen können die Individuen sich als freie Individuen begreifen, die sich wechselseitig als Eigentümer anerkennen, die jeweils einen Willen haben. In früheren Produktionsweisen bestanden persönliche Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse. Es handelt sich um die direkte Unterwerfung unter diejenigen, die die Arbeit in ihrer Naturalform aneignen – nicht um gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen (92). Auf der neuen, kapitalistischen Stufe von Klassenverhältnissen ist das Individuum einer abstrakten, sachlichen Autorität unterworfen: abstrakten Gesetzen, Formen der Disziplin, Regierungstechniken der Menschenführung (wie dies im Anschluß an Marx insbesondere Gramsci und Foucault gezeigt haben). Dieser Form von Autorität entspricht ein „Kultus des abstrakten Menschen“ (93), der formelle Freiheit genießt und individuelle Neigungen und Bedürfnisse überhaupt ausbilden kann. So verstanden hat Marx also die Vorstellung, daß nur unter kapitalistischen Bedingungen Individuen zu Personifikationen und Charaktermasken gesellschaftlicher Verhältnisse werden.

    Es könnte aus einer moralphilosophischen Sicht angenommen werden, daß Marx nahelegen will, die Menschen sollten keine Charaktermasken sein. Damit wäre seine Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise eine moralische Kritik: der Kapitalismus entmenschlicht die Individuen. Sie sind nur Charaktermasken, nicht wirklich Subjekte; sie können keine Menschen sein – ein humanistisches Argument, wie es sich bei Mozart oder Beethoven findet. Dieses Argument ist im Prinzip eine Umkehrung des Vorwurfs der Entmenschlichung. Der Kapitalismus ist ein System, das alle Individuen ihrer moralischen Freiheit beraubt und sie auf funktionale Rollen reduziert. Die Systemtheorie hat diese Sicht dann moralfrei vertreten: für die Moderne ist es charakteristisch, daß Individuen lernen, die von den Funktionssystemen ausdifferenzierten Rollen jeweils wahrzunehmen: also Kunde, PartnerIn einer Intimbeziehung, Studierender – in allen diesen Rollen folgen die Individuen anderen Handlungskriterien: an der Kasse des Supermarkts erwartet man keine Liebe, das Verhältnis zur wissenschaftlichen Wahrheit kann keine Kundenbeziehung sein. Mit dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann zu sprechen: Personen wären nichts anderes als Adressen im System, eine Substanz des Individuums hinter all den Rollen gibt es nicht. Wenn die Individuen nicht funktionieren, fallen sie heraus. Entsprechend ist dann auch eines der Verteidigungsargumente von Herrschenden: daß sie gar keinen Handlungsspielraum hatten und eben tun mussten, was von ihnen verlangt wurde; jeder andere oder genügend andere hätten an ihrer Stelle auch so gehandelt, und hätten sie selbst nicht so gehandelt, wären sie ersetzt worden durch solche, die alles noch viel schlechter gemacht hätten. Der kapitalistische Produktions- und Reproduktionszusammenhang erscheint als ein System, in dem sich Sachzwänge vollziehen.

    Eine Kritik dieser Art zielt auf das System als Ganzes, als ein Zusammenhang von Sachzwängen, die als sachlich vermittelte Zwänge, für niemand haftbar zu machen ist, unmenschlich sind. Moralisch kann daraus die Forderung folgen, sich zu verweigern. Niemand soll mehr mitmachen: Stell Dir vor, es ist Kapitalismus, und keiner geht hin! Individuen sollen sich in einem moralischen Akt solchen Funktionen verweigern und sich den Anforderungen des Systems entziehen. Herbert Marcuse propagierte entsprechend die „große Verweigerung“. Unterstellt wird, daß es möglich wäre, durch eine individuelle Entscheidung und gemeinsam mit anderen die Charaktermaske abzulegen. Diese Individuen sind dann keine Charaktermasken, keine Personifikationen mehr, sondern entdecken den wahren Menschen in sich. Diese Strategie hat eine Schwäche, auf die Marx schon hingewiesen hat: die Individuen müssen sich reproduzieren, und um dies tun zu können, müssen sie sich in die Verhältnisse einfügen. Nur die wenigsten haben Ressourcen, die es ihnen für wenige Tage oder Wochen ermöglichen würde, sich dem Zwang zur Arbeit zu entziehen. Die Reproduktion der Individuen wiederum trägt zur Reproduktion, zur Erhaltung der kapitalistischen Verhältnisse bei. Nicht nur, aber auch deswegen war Marx der Ansicht, daß die Befreiung vor allem von denen ausgehen muss, die im Zentrum des kapitalistischen Ausbeutungszusammenhangs stehen, die ArbeiterInnen; und die Emanzipation besteht nicht in der Verweigerung, sondern in der Aneignung des Produktionsprozesses und der Reproduktion des gesellschaftlichen Zusammenhangs selbst, also in der Aneignung der Gesellschaftlichkeit des tätigen Zusammenhangs der Individuen. Allerdings spielt auch die Verweigerung als ein Moment des Bruchs, als ein Moment der Kritik an den Zwänge der Arbeit, Leistung, der Disziplinierung, der Privatisierung, der Kritik am Arbeitsregime, an der Existenz von Klassen, selbst eine zentrale Rolle, weil sonst die Emanzipation von der Existenz als Klasse nicht möglich ist.

    Ich meine, daß Marx hier keine moralischen Gesichtspunkte in Anspruch nimmt, sondern eher derart argumentiert, daß moralische Gesichtspunkte – also solche des Handelns, das auf einen freien Willen und auf individuelle Verantwortung zurückzuführen wäre – keine Bedeutung haben. Er betrachte die Personen „nur, soweit sie Personifikation ökonomischer Kategorien …“ sind. Es geht darum, die Logik des Handelns der Individuen zu begreifen. Die gesellschaftlichen Prozesse sind nicht das Ergebnis von individuellen Willensentscheidungen. Aber sie sind auch nicht nur passive Opfer. Die Charaktermaske wird von Marx als Personifikation bestimmt. Dies gibt seiner Überlegung einen aktiven Akzent: die Individuen werden in und durch die Verhältnisse, unter denen sie leben, zu bestimmten Personen gemacht. Auf diese Weise werden sie zu Träger von Verhältnissen, aber nicht von irgendwelchen Verhältnissen, sondern von Klassenverhältnissen. Die Personen tragen aktiv die Verhältnisse und reproduzieren sie durch ihr Handeln. Würden die Verhältnisse von Personen nicht getragen, gäbe es sie nicht. Aber es sind nicht die Einzelnen, sondern um die Personen als Angehörige von Klassen. Sie handeln nach bestimmten kollektiven Gesichtspunkten: sie denken und sprechen miteinander, entwickeln tägliche Gewohnheiten, bilden Erwartungen aus über den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung oder ihre Rechte und treffen in diesen kollektiven Zusammenhängen Entscheidungen. Sie entwickeln Dispositionen, das Kommando über andere Menschen auszuüben, schaffen sich Gründe dafür, warum sie Herrschaft ausüben und den gesellschaftlichen Reichtum aneignen und zu ihrer Verteidigung Gewalt einsetzen dürfen. Das alles sind immer kollektive Praktiken, also konkrete Verhältnisse, unter denen bestimmte Individuen als Kollektiv leben. Diese kollektive Praxis – eine Klassenpraxis - kann geändert werden. Das Ziel von Marx ist nicht – das sage ich gegen ein humanistisches Verständnis der Theorie von Marx -, daß am Ende unter der Charaktermaske der wahre Mensch gefunden wird. Charaktermaske und Personifikation ökonomischer Kategorien zu sein ist eine historische Gestalt des Individuums – des modernen, kapitalistischen Individuums, das sich aufspaltet in das Individuum, das rechtlich und moralisch für all sein Handeln verantwortlich sein soll, es aber gleichzeitig gar nicht sein kann, weil es nur eine Funktion ausübt. Weil es eine historische Gestalt ist und als Individuum mit einer bestimmten Subjektfunktion ein Ergebnis der sozialen Kämpfe, geht es Marx auch um eine Überwindung dieser Form des Subjekts geht. Doch ist damit nicht die Wiederherstellung einer früheren historischen Form des Subjekts gemeint, vielmehr geht es um die Schaffung von gesellschaftlichen Verhältnissen, die von den Individuen in der Kooperation mit allen anderen gemeinsam hergestellt und verwaltet werden können. Da es das, was wir heute Ökonomie nennen, nicht mehr gäbe; weil es auch keine Klassen mehr gäbe, wären die Individuen auch nicht mehr länger auf Kollektivmerkmale reduziert, sondern hätten die Möglichkeit, ihren jeweiligen Bedürfnissen nach sich in aller Freiheit zu differenzieren und zu assoziieren.

    3) Seite 97, Zitat unten: Was bei diesem Zitat ist von Marx? Was davon teilt er, was kritisiert er?


    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Das Zitat findet sich am Ende des sog. Fetischkapitels. Marx zieht das Zitat eines Ökonomen heran, weil er die Waren sozusagen durch diesen sprechen lassen will. Marx macht sich also nicht die inhaltliche Aussage des Zitats zu Eigen. Vielmehr unterstreicht er mit diesem Zitat die Wirkmächtigkeit des Fetischs. Er zeigt, wie Ökonomen dem Fetisch aufsitzen und die Werteigenschaft der Waren als deren natürliche Eigenschaft begreifen - unhinterfragt. Deshalb macht sich Marx auch zugleich auf der nächsten Seite darüber lustig: Bisher habe noch kein Chemiker Tauschwert in Perle oder Diamant entdeckt. Nach Marx Darstellung ist die Werteigenschaft der Waren eben nichts Natürliches, sondern ein "Effekt" eines ganz besonderen gesellschaftlichen Verhältnisses und Zusammenhangs.

    Klaus Peter Kisker

    Das Zitat bekräftigt lediglich die im Text von Marx gemachten Feststellungen.


    4) Seite 102, 5. Zeile von unten "Der Warenaustausch..."
    Warum gibt es für Marx schon bei diesen Gemeinwesen Warenaustausch, obwohl er das eigentlich als spezifisches Produkt des Kapitalismus fasst? Ist Warenaustausch für Marx also doch eine ewige Naturnotwendigkeit?


    Klaus Peter Kisker

    Warentausch gab es nach Marx praktisch schon immer, also auch in den vorkapitalistischen Gesellschaften. Das Spezifikum des entwickelten Kapitalismus ist der Äquivalententausch.

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Marx schreibt ja gerade, dass die Menschen in den Gemeinwesen keine Warenbeziehungen eingehen: "Der Warenaustausch beginnt, wo die Gemeinwesen enden". Der Kontakt mit fremden Gemeinwesen kann punktuell über Warentausch laufen, muss aber nicht. Warum und in welchem Ausmaß beginnende Warentauschbeziehungen auch Rückwirkungen auf die innere Organisation der Gemeinwesen haben (können), begründet Marx an dieser Stelle nicht, schränkt aber gleich ein, dass das quantitative Austauschverhältnis der Waren zunächst "ganz zufällig" ist - es sich also nicht um verallgemeinerte Tauschbeziehungen auf der Grundlage von Werten handelt, sondern um vereinzelte, "zufällige" Tauschakte. Erst die Gewohnheit weitet diese Formen der gesellschaftlichen Beziehungen aus und fixiert sie als Wertverhältnisse. Dann haben wir es aber nicht mehr mit den von Marx angeführten "naturwüchsigen" Gemeinwesen (z.B. bäuerliche Gemeinschaft oder Großfamilie) zu tun, wo das Ausschlaggebende ist, dass unter den Mitgliedern gerade kein "Verhältnis wechselseitiger Fremdheit" der "voneinander unabhängigen Personen" (wie bei den PrivatproduzentInnen im Kapitalismus) herrscht. Marx skizziert an dieser Stelle, ähnlich wie wenig später mit Bezug auf das Geld, in erster Linie die Bedingungen, unter denen Warentausch überhaupt entstehen kann und welche Charakteristika er aufweist (Fremdheit der Produzent/innen, Scheidung von Gebrauchs- und Tauschwert etc.). Keineswegs sagt er, dass Warentausch als ewige ("naturnotwenige") Konstante gleichermaßen alle Gesellschaften durchzöge. Die im Fetischkapitel (S. 85ff) beispielhaft skizzierten anderen Produktionsformen (Robinson, Leibeigenschaft, patriarchale Bauernfamilie, Verein freier Menschen) führt Marx ja gerade an, um zu zeigen, inwiefern Warentausch und Wertgesetz eben gerade nicht jeder Gesellschaft innewohnende Notwendigkeit sind, ebensowenig wie der damit einhergehende Warenfetisch und andere Mystifikationen.

    5) Seite 104, 1. Zeile; Was meint Marx hier? Wurde nur mit Sklaven gehandelt oder waren Sklaven selber das allgemeine Äquivalent?

    Siehe Frage 1): Inwiefern sind Sklaven Sachen? (2. Kapitel: Frauen mit feurigem Körper). Handelt es sich dabei um "Teilzeitsklavinnen"? Unterscheidet Marx zwischen Sklaven und Lohnsklaven?

    Klaus Peter Kisker

    Sklaven sind Eigentum eines Menschen (Sklavenhalter), es sind Sachen, da sie keine eigene Rechtspersönlichkeit haben. Sklaven wurden gekauft, verkauft, deshalb konnten sie als Ware auch als allgemeines Äquivalent herhalte (MEW23,S.83, „Die allgemeine Äquivalentform …kann jeder Ware zukommen“). Teilzeitsklaven oder –sklavinnen gibt es nicht, genau so wenig wie Lohnsklaven. Lohn als Preis der Arbeitskraft setzt den „doppelt freien Lohnarbeiter“ voraus, frei von persönlichen Bindungen und frei von eigenen Produktionsmitteln( dazu mehr im 17. Kapitel).

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Nein, die Sklaven waren nicht das allgemeine Äquivalent. Marx macht an dieser Stelle historische Verweise auf den in bestimmten Gesellschaften sich durchsetzenden Gebrauch stofflicher Träger der Geldform (Gewürze, Vieh etc.). Er stellt jedoch nicht die historische Herausbildung des Geldes an sich dar, es ist also keine kleine Geschichte des Geldes. Er skizziert nur historische Zeitpunkte entlang der Charakteristika, die das moderne Geld aufweisen muss, damit es überhaupt als Geld fungieren kann und warum das wo passiert ist. Geld muss bspw. lange haltbar und beweglich sein. Deshalb wurden Waren bspw. im alten Griechenland - wo es bereits eine Warenproduktion gab, aber nicht als gesellschaftlich vorherrschende Form - nicht mit Boden gegeneinander ausgetaucht, sondern mit Sklaven. Es ist aber zu unterstreichen, dass diese eben nicht Geld im Sinne des allgemeinen Äquivalents waren (der Warentausch war noch nicht allerorts durchgesetzte Beziehung zwischen den Menschen), sondern nur bestimmte Geldfunktionen in einem ganz bestimmten Sinn ausgeübt haben: annerkanntes Tausch- und Zirkulationsmittel in der Sphäre der Polis/Gesellschaft, in der sich Warenbeziehungen herausgebildet hatten.

    6) In welchem Verhältnis steht Geld als Maß der Werte und Geld als Maßstab der Preise? (in Bezug auf das 3. Kapitel, Seite 113)


    Klaus Peter Kisker

    Die Funktion des Geldes besteht darin, für die Waren allgemeines Maß der Werte zu sein. D. h. der Wert jeder Ware wird durch ein bestimmtes Quantum Geld ausgedrückt. „Geld als Wertmaß ist notwendige Erscheinungsform des immanenten Wertmaßes der Waren der Arbeitszeit“ (MEW23, S.109). Der Wertausdruck einer Ware in Geld ist ihr Preis. Maßstab der Preise heißt den relativen Wert des Geldes selbst zu bestimmen. Der Maßstab der Preise verändert sich bei Inflation oder Deflation.

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Kurz gesagt, könnte man bei dieser Unterscheidung von einer qualitativen und einer quantitativen Dimension sprechen. Dass überhaupt der Wert von Waren messbar ist, bedarf es eines Wertmaßes – Geld. Ohne Geld, so Marx, können sich Waren nicht aufeinander als Werte beziehen.

    In Fußnote 50 (KI, 109) verweist Marx auf seine Ausführungen in Zur Kritik, wo er kurz skizziert, warum Arbeitszeit nicht unmittelbar gemessen werden kann. Im Kapitalismus ist nicht einfach die individuell verausgabte, sondern die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit Wert bildend. Welche das ist und in welchem Umfang sie das ist, zeigt erst der Bezug der Waren auf Geld im Austausch.

    Ist klar, was als Geld fungiert (Gold oder Zentralbanknoten), dann drücken die Waren ihre Wertgröße in dieser jeweils historisch spezifischen Form des Geldes aus. Der Wertausdruck der Waren in Geld ist ihr Preis. Dafür braucht es kein reelles Geld. Auch der ideelle, der vorgestellte Bezug auf das Geld reicht aus. Das Geld wiederum liegt in unterschiedlichen quantitativen Mengen vor, was es ermöglicht, die unterschiedlichen Wertgrößen der Waren auszudrücken. Die Quantität orientierte sich bei Gold am Gewicht des Metalls; bei Zentralbanknoten und -münzen sind es die in einer bestimmten Währung aufgeteilten Maßeinheiten (Euro, Cent). Wichtig ist hierbei, dass das Geld auch einen stabilen Maßstab der Preise darstellt. Deshalb sind die Zentralbanken auch darauf bedacht, das von ihnen garantierte Geld möglichst stabil zu halten.

    Marx macht den Unterschied der beiden Funktionen im Kapital recht prägnant deutlich:

    "Als Maß der Werte und als Maßstab der Preise verrichtet das Geld zwei ganz verschiedne Funktionen. Maß der Werte ist es als die gesellschaftliche Inkarnation der menschlichen Arbeit, Maßstab der Preise als ein festgesetztes Metallgewicht. Als Wertmaß dient es dazu, die Werte der bunt verschiednen Waren in Preise zu verwandeln, in vorgestellte Goldquanta; als Maßstab der Preise misst es diese Goldquanta. […] Für den Maßstab der Preise muss ein bestimmtes Goldgewicht als Maßeinheit fixiert werden. Hier, wie in allen andren Maßbestimmungen gleichnamiger Größen, wird die Festigkeit der Maßverhältnisse entscheidend. Der Maßstab der Preise erfüllt daher seine Funktion um so besser, je unveränderlicher ein und dasselbe Quantum Gold als Maßeinheit dient." (KI, 113)

    Wenn Marx in diesem Zusammenhang des Öfteren davon spricht, dass die Waren zu ihren Werten getauscht werden, dann bedeutet das, dass er in der Darstellung davon ausgeht, dass die Werte adäquat im Preis ausgedrückt werden. Er wird diese vorläufige Annahme später nochmals thematisieren und revidieren. Diese Diskussion kann jedoch auf der Ebene des dritten Kapitels nicht vorweg genommen werden.


    7) S. 117, 1. Absatz "Die Preisform... zu haben."; Hat der Kapitalismus ein systemische Logik, welche Gewissen und Ehre die Preisform gibt und sie somit verkäuflich macht?

    Bzw. Ist dem Kapitalismus eine Logik innewohnend, die Korruption stärker hervorruft als andere Produktionsweisen?

    Klaus Peter Kisker

    Geld ist die Wertform der Waren, aber nicht jeder Preis ist Ausdruck einer Wertgröße. Marx nennt Beispiele dafür, dass bestimmte Sachverhalte oder Dinge käuflich sind ohne einen Wert im Sinn der Arbeitswerttheorie haben. Eine systemische Logik, welche Gewissen etc. verkäuflich macht oder Korruption stärker als in anderen Produktionsweisen fördert, ist nicht gegeben. Der Kapitalismus ist seinem Wesen nach asozial.

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Marx behauptet an dieser Stelle eigentlich nur, dass etwas einen Preis haben kann, ohne notwendigerweise einen Wert zu haben. So könne man sich von einem schlechten Gewissen frei kaufen. Marx begründet an dieser Stelle jedoch nicht, warum das so ist. Ebenso unklar bleibt an dieser Stelle, warum wer eigentlich Gewissen oder Ehre kaufen sollte. Nur so viel ist klar: Für Geld ist alles käuflich, so lange der Preis stimmt. Mehr kann eigentlich nicht richtig diskutiert werden.

    Bisher hat Marx immer unterstellt, dass er sich nur Waren als Resultat von Arbeit analysiert. In Zur Kritik hat er das deutlicher gemacht. Am Schluss des ersten Kapitels hält Marx fest:

    "Wenn der Tauschwert nichts ist als die in einer Ware enthaltene Arbeitszeit, wie können Waren, die keine Arbeit enthalten, Tauschwert besitzen, oder in andern Worten, woher der Tauschwert bloßer Naturkräfte? Dies Problem wird gelöst in der Lehre von der Grundrente." (MEW 13, 48) 

    Das Gewissen ist zwar keine Naturkraft, aber zumindest kein Arbeitsprodukt, noch entsteht es als Ware. Marx hat an der Stelle im Kapital nicht begründet, warum Nicht-Arbeitsprodukte einen Preis haben können. Als ein anderes, eigentlich viel wichtiges Beispiel führt Marx unbearbeiteter Boden an. Auch hier bleibt Marx zunächst eine Antwort schuldig und wir müssen überprüfen, ob und wie er dieses Problem bzw. diese Behauptung im Laufe der Darstellung einholt. 

    8) S. 93, 1. Absatz; Was ist gemeint mit Kultus des abstrakten Menschen im Christentum?

     

    Was meint Marx mit "namentlich" in diesem Zusamenhang? Ist auch die katholische Religion eine dem Kapitalismus entsprechende Reigionsform und sind die protestantischen Religion nur noch adäquater? Oder sind nur die protestantischen Religionsformen adäquat?
    Was hat der Kapitalismus mit dem Christentum zu tun, obwohl das Christentum soviel älter ist?

    Wolfgang Fritz Haug

    Der Schlüssel findet sich ein paar Seiten davor, auf S. 74: Obwohl Aristoteles das Problem der Wertformanalyse, wie Marx zeigt, im Ansatz genial begriffen hat, erklärt er seine Lösung für >unmöglich<. Warum? Weil er, um auf sie zu kommen, hätte begreifen müssen, dass >in der Form der Warenwerte alle Arbeiten als gleiche menschliche Arbeit und daher als gleichgeltend ausgedrückt sind<. Das aber war für ihn undenkbar, >weil die griechische Gesellschaft auf der Sklavenarbeit beruhte, daher die Ungleichheit der Menschen und ihrer Arbeitskräfte zur Naturbasis hatte<.

    Das aufkommende Christentum stellte zwar Familie, Eigentum, Klassenherrschaft und Staatsmacht in ihrer 'irdisch'-gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedeutung nicht infrage, löste aber theologisch die Individuen aus allen sozialen Verbänden und Traditionen. Bereits Jesus verlangte von denen, die seine Jünger werden wollten, sich radikal aus ihrer Familie zu lösen. Und Paulus, der eigentliche Gründer des Christentums, proklamiert den - in diesem, die konkreten sozialen Bedingungen und Beziehungen imaginär zurücklassenden Sinn - 'abstrakten Menschen': Für Gott >gibt es keinen Juden und auch keinen Griechen: keinen Sklaven und keinen Freien: keinen Mann und keine Frau< (Galater 3.28).

    Während der Katholizismus in den folgenden anderthalbtausend Jahren vorchristliche Elemente aufgenommen und viele Instanzen (die Heiligen, die Kirchenhierarchie selbst) zwischen die Individuen und Gott gestellt hat, konfrontiert die Reformation mit ihrer vom städtischen Bürgertum getragenen Dynamik den Einzelnen mit seinem Gewissen unvermittelt mit dem >Wort Gottes<. Wenn das Christentum also eine religiöse Auftreffstruktur für den entstehenden Kapitalismus gebildet hat, so dieser in seinem Werdegang sich das Christentum seinerseits zum ihm entsprechenden religiösen Überbau geformt.

    Die Gegenreformation des Katholizismus reformierte diesen in der Art dessen, was Antonio Gramsci als passive Revolution begreift: die unaufschiebbaren Veränderungen werden nicht von unten erzwungen, sondern von oben strategisch durchgesetzt. So ist es bis heute geblieben. Daher gilt noch immer, dass das Christentum, und in dessen Rahmen vor allem (>namentlich<) der Protestantismus, dem Kapitalismus entspricht, freilich auf eine Weise, die ihm in anderer Hinsicht auch widerspricht. Ob es aber, >die entsprechendste Religionsform< schlechthin ist, wie auch Max Weber überzeugt war, müsste vergleichend untersucht werden. Die Formel aus dem Kontext zu reißen und zu verabsolutieren, führt zu nichts.

    Frieder Otto Wolf

    Marx' These vom 'Kultus des abstrakten Menschen' bezieht sich darauf, dass im Christentum jeder Mensch als Mensch zählt, ganz gleich ob Frau oder Sklave oder auch Nichtjude. Das war schon im frühen Christentum so, wurde aber in Orthodoxie und Katholizismus von einem starken Hierarchiedenken (Übergang von der 'Gemeinde' zur 'Kirche') überlagert. Mit dem Aufkommen der modernen bürgerlichen Gesellschaft macht sich dagegen dieser individualistische Impuls als Grundanliegen aller 'Warenhüter' als freie und gleiche Privateigentümer wieder stärker geltend: 'namentlich' im Sinne von wieder besonders klar und deutlich.Dieses bestimmte Christentum entsteht gleichursprünglich mit dem Kapitalismus und hat daher intensiv mit ihm zu tun. Wir sollten die von den Christen verbreitete Illusion ablegen, 'das Christentum' sei immer das Gleiche gewesen! Es hat sich mehrfach geradezu in sein Gegenteil verwandelt: Von einer Religion der zumindest ideologischen Sklavenbefreiung und der Gemeindesolidarität zu einer hierarchischen Staatskirche (Orthodoxie) und einer nicht minder hierarchischen Kirche der aufkommenden Feudalität (Katholizismus) zu den modernen Kirchen der aufsteigenden bürgerlichen Gesellschaften und auch von deren Staaten und Imperien. Der Versuch allerdings, durch die Befreiungstheologie die Kirchen noch einmal zu wandeln in einen Verbund von für die Befreiung von Kapitalismus und Imperialismus kämpfenden Gemeinden, ist wohl inzwischen als gescheitert anzusehen.

    3. Fragenrunde (April/Mai 2009)

    Antworten von: Lutz Brangsch, Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle und Alex Demirović

    1.Frage: Entwickelt marx G-W-G' logisch aus W-G-W? wenn ja, wie?


    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Zunächst einmal gibt es keinen argumentatorischen Übergang an dem Punkt, an dem Marx aus der unmittelbaren Form der einfachen Warenzirkulation „W-G-W“ die Bewegungsform „G-W-G“ entwickelt. Er schreibt (S. 162): „Neben dieser Form finden wir aber eine zweite, spezifisch unterschiedne vor, die Form G-W-G, […] kaufen, um zu verkaufen.“ Das ist weder eine logische, noch sonst eine kategoriale Entwicklung des einen aus dem anderen (so wie beispielsweise in der Wertformanalyse die verschiedenen Wertformen auseinander entwickelt werden). Sowohl in den „Grundrissen“ oder in „Zur Kritik…“ (1859) wird dieser Übergang von der Ebene der einfachen Zirkulation zur Verwandlung von Geld in Kapital von Marx stringenter dargestellt. Sein zentrales Argument ist hier, dass nur das Kapital bzw. der Verwertungsprozess dem Wert eine intertemporale Existenz verleihen kann. Der Grund, warum Geld und Ware ständig in der Zirkulation erscheinen, ein- und wieder austreten, liegt außerhalb der einfachen Zirkulation und kann deshalb auch hier nicht aufgefunden werden. Die einfache Zirkulation von Ware und Geld ist unselbstständig und vermittelt "nur" den außerhalb ihr stattfindenden Verwertungsprozess  [vgl. zu diesem fehlenden Übergang die überaus hilfreiche Erläuterung in Michael Heinrich „Kritik der Politischen Ökonomie. Eine Einführung“ (S. 81/82)]

    Vor dem Hintergrund der Wertformanalyse (die im Geld als notwendigem und selbständigem Ausdruck von Wert mündet) beginnt Marx im vierten Kapitel also recht abrupt mit der Analyse der Form G-W-G. Das sie treibende Motiv ist der Tauschwert. Anders als der Gebrauchswert kennt der Tauschwert kein ihm innewohnendes Maß der Begrenzung. Diese Form des Tauschs, bei dem das Geld als selbständiger und dauerhafter Ausdruck von Wert an dessen Anfang und Ende steht, macht nur dann Sinn (im Gegensatz zu W-G-W, wo am Ende der Tauschhandlung ein anderer Gebrauchswert steht), wenn der Wert die Bewegung G-W-G’ vollzieht, hinterher also mehr Geld rauskommt als vorher hineingesteckt wurde (da ein qualitativer Unterschied bei Geld nicht möglich ist). Marx schreibt: „Der Prozess G-W-G schuldet seinen Inhalt daher keinem qualitativen Unterschied seiner Extreme, denn sie sind beide Geld, sondern nur ihrer quantitativen Verschiedenheit“ (165) Diese Bewegung ist ihrer Natur nach endlos: „Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist [...] Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.“ (167) Der Wert wird zum „automatischen Subjekt“, der nur noch einen Zweck kennt: dass aus G hinterher G’ wird.

    2. Frage: Bestimmt im Verein freier Menschen das Bewusstsein das Sein?

    Die Austauschenden stehen unter der Kontrolle der Sachen (S.89), der Produktionsprozess bemeistert die Menschen (S. 95). Umgekehrt verhält es sich aber, wenn die "Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d.h. des materiellen Produktionsprozesses" unter "bewusster" planmäßiger Kontrolle frei vergesellschafteter Menschen steht. (S.94, S. 108). Heißt das, dass mit einem "Verein freier Menschen", der seine Arbeitskraft "selbstbewusst" verausgabt (S. 92), nicht mehr das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein sondern umgekehrt das Bewusstsein das gesellschaftliche Sein bestimmt? Dass also mit dem Verschwinden des "religiösen Widerscheins der wirklichen Welt" (S. 94) auch der gesamte sogenannte historische Materialismus erledigt ist?

    Alex Demirović

    Dieses Problem war eines der zentralen Probleme des „westlichen Marxismus“ seit den 1920er Jahren, also mit den Arbeiten von Karl Korsch und Georg Lukács. Vor allem Lukács und im Anschluss an ihn die Kritische Theorie entfalten die Überlegung eines kritischen Materialismus. Danach ist es gerade ein Merkmal von Klassengesellschaften, daß das Sein das Bewußtsein beherrscht. Emanzipation von verdinglichenden Verhältnissen bedeutet demgegenüber, daß die Menschen erkennen, daß die Gegenstände und die Verhältnisse von ihnen hergestellt sind. Weil dies so ist, können sie sie auch bewußt gestalten. In diesem Sinn wäre also die Bestimmung durch den stummen Zwang der Verhältnisse aufgehoben; Gerade also die Entwürdigung der Menschen, daß sie von außen, von den Notwendigkeiten der Selbsterhaltung bestimmt werden. Alles könnte nun durch bewußte Überlegung, Planung und Entscheidung der Menschen festgelegt werden. Es scheint so, als kehrte sich das Verhältnis von Sein und Bewußtsein geradezu um.

    Gegen diese Vorstellung wurde insbesondere von Louis Althusser Vorbehalt geäußert. Aus seiner Sicht führt dies zu der Konsequenz, sich die kommunistische Welt als völlig transparent vorzustellen. Alle Beteiligten wissen zu jedem Zeitpunkt, was geschieht. Eine solche Welt wäre der vollendete Idealismus.

    Es handelt sich zudem um eine problematische Vorstellung deswegen, weil sich damit zumeist die Annahme verbindet, die höchste Stufe des Bewußtseins ist die Wissenschaft, gar der Marxismus als wissenschaftliche Weltanschauung. Die Wissenschaft könnte dann die gesellschaftlichen Prozesse lenken. Mit einer solchen Annahme wird die Wissenschaft enorm privilegiert. Laien haben gar nicht mehr mitzureden; und es wird – jedenfalls von einem schlichten Wissenschaftsverständnis - nahegelegt, daß es jeweils nur eine wissenschaftlich richtige Lösung für ein Problem geben könne. Die Gefahr entsteht also, daß der Satz von Engels (MEW 19, 224), daß „an die Stelle der Regierung von Personen die Verwaltung von Sachen“ trete, so verstanden wird, daß dann über Entscheidungen nicht mehr diskutiert wird, da sich Meinungsverschiedenheiten in der einen richtigen Lösung auflösen. Konflikte kann es nicht geben, und wenn es sie doch gibt, dann nur, weil einzelne kein Einsehen haben. Von Liberalen wird dies als eine Illusion dargestellt, die Illusion einer völlig transparenten, geplanten, friedlichen Gesellschaft, die aber am Ende autoritär und totalitär werden muss, da alle abweichenden, die Einheit störenden Momente beseitigt werden müssen. Die Konsequenz des Liberalismus ist, daß die Verhältnisse so bleiben sollten, wie sie sind. Nur in einer Marktgesellschaft sei Offenheit, Pluralismus, Diskussion, Innovation gewährleistet. Der Liberalismus baut eine Aporie auf: entweder Freiheit und Diskussion = Markt oder bewußte gesellschaftliche Lebensweise = Totalitarismus. Doch in der Tradition des westlichen Marxismus wurden gegen die Transparenz-Annahme ebenfalls Einwände formuliert (Horkheimer, Adorno: Dialektik der Aufklärung; Adorno: Negative Dialektik; Althusser: Für Marx). Adorno hat mehrfach darauf hingewiesen, daß es nicht unvereinbar ist, sich eine friedliche und freie Form menschheitlichen Zusammenlebens vorzustellen, ohne in die Hegelsche Vision eines absoluten Geistes zu verfallen.

    Gegen die Vorstellung einer transparenten, gleichsam von oben, mit Bewußtsein – und schließlich mit einheitlichem wissenschaftlichen Bewußtsein gelenkten Welt finden sich auch schon bei Marx und bei Engels eine Reihe von wichtigen Äußerungen. So schreibt Marx in einem Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, daß die Arbeiterklasse wisse, „daß das gegenwärtige »spontane Wirken der Naturgesetze des Kapitals und des Grundeigentums« nur im Verlauf eines langen Entwicklungsprozesses neuer Bedingungen durch »das spontane Wirken der Gesetze der gesellschaftlichen Ökonomie der freien und assoziierten Arbeit« ersetzt werden kann …“ (MEW 17, 546). Damit macht Marx deutlich, daß er auch für die Phase des Kommunismus an der Fortexistenz von gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten festhält. Allerdings handelt es sich um einen anderen Typ von Gesetzmäßigkeiten: Es sind von den Menschen in Freiheit bewußt gewählte und eingerichtet und deswegen von ihnen auch veränderbare Gesetzmäßigkeiten. Engels deutet dies an, allerdings selbst wieder in einer etwas verqueren Art, wenn er schreibt, daß die Menschen nun „wirklich Herren der Natur werden und „die Gesetze ihres eigenen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden“, von ihnen nun in voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht werden (MEW 20, 264). Das legt nahe, als würden sich die gesellschaftlichen Naturgesetze gar nicht ändern, sondern nur bewußter genutzt werden. Ebenso legt Engels an dieser Stelle nahe, als hätten Natur und die Erkenntnis ihrer Gesetze nicht selbst eine Geschichte. Demgegenüber betont Marx gerade, daß auch die spontan wirkenden Gesetzmäßigkeiten einer Assoziation freier Individuen eben andere sind – nicht nur eine andere Nutzungsweise derselben Gesetze.

    Der Materialismus, demzufolge das Bewußtsein ins Sein fällt und insofern diesem Sein das Primat zukommt, wird also nicht aufgehoben. Aber es verändert sich die Beziehungen zwischen diesen beiden Elementen: Sein und Bewußtsein. Im Sinne der Feuerbach-Thesen von Marx läßt sich sagen, daß die Menschen sich der Tatsache nun endlich bewußt werden, daß ihnen die Gegenstände nicht als passive Objekte, die sie manipulieren können, vorgeschichtlich und vorgesellschaftlich gegeben sind, sondern daß sie ihre Gegenstandswelt ebenso wie ihr eigenes Bewußtsein in ihrer Kooperation zuallererst erzeugen: die gegenständliche Welt, das, was die Menschen bestimmt, ist immer schon ihre historisch konkrete Gegenstandswelt; die Menschen sind dieses historisch spezifische Ensemble von Verhältnissen und gar nichts anderes. Die Vorstellung, das Bewußtsein sei etwas von der Gegenstandswelt Getrenntes und stünde dieser Welt beherrschende gegenüber, geht selbst auf den Standpunkt von Klassenherrschaft zurück: den Herrn, der über Gegenstände und körperlich Arbeitende das Kommando hat. Im wirklichen geschichtlichen Prozess bilden Sein und Bewußtsein eine Einheit: bewußtes Sein, wie Gramsci sagt: einen historischen Block. Insofern macht es keinen Sinn, sich eine materielle Welt ohne Bewußtsein, ohne den Menschen vorzustellen. Die Naturgesetze sind Gesetze für uns, die wir uns die Welt aneignen – da ist niemand sonst. Die materielle Welt ist die Welt, die die Menschen durch ihre Arbeit erzeugt und gestaltet haben. Sie haben dies unter Bedingungen getan, über die sie nicht frei entschieden haben. Genau darum geht es: frei gewählte Verhältnisse herzustellen, unter denen die Menschen gemeinsam und frei über die weitere Gestaltung ihrer Welt entscheiden. Aber auch diese Welt ist eine materiell erzeugte Welt und nimmt die Form von Verhältnissen und konkreten Dingen, bindet auf irreversible Weise Ressourcen und lebendiges Arbeitsvermögen der einzelnen.

    Lutz Brangsch

    Nein, das heißt es nicht. Marx‘ Herangehen an die Wechselwirkung von Sein und Bewusstsein ist keinesfalls mechanistisch. Er behauptet keineswegs, dass das Sein das Bewusstsein bestimmen würde – lediglich, dass das Sein in letzter Instanz das Bewusstsein bestimmt. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Selbstbewusste Verausgabung von Arbeitskraft bedeutet für ihn nicht willkürliche Verausgabung von Arbeitskraft. Realität ist für ihn immer Ergebnis menschlicher Tätigkeit und bewussten Handelns, dass sich auf bestimmte Art und Weise mit dem Sein auseinandersetzt und dieses Sein verändert. Dieses veränderte Sein fordert erneute geistige wie auch praktische Auseinandersetzung mit diesem neuen Sein heraus. Das Verhältnis von Sein und Bewusstsein ist also ein aktives Verhältnis. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Sein damit beliebig zu gestalten oder das Bewusstsein ohne Wurzel im Sein vorstellbar wäre. Weder zieht ein bestimmtes Sein zwangsläufig ein ganz bestimmtes Bewusstsein nach sich, noch ein bestimmtes Bewusstsein ein ganz bestimmtes Sein. Beide schaffen immer bestimmte Möglichkeiten. Die Bewusstheit bezieht sich bei Marx auf das Verstehen der grundlegenden Bewegungsrichtungen, Tendenzen gesellschaftlicher Entwicklung, eben der Wechselwirkung von Sein und Bewusstsein. Die Gesellschaft der frei vergesellschafteten Menschen verausgaben ihre Arbeit selbstbewusst lediglich in dem Sinne, dass die durch das kapitalistische Eigentumsmonopol gesetzte Entgegensetzung in einem Konkurrenzsystem aufgehoben wird, nicht aber, dass damit Widersprüche im gesellschaftlichen Sein wie im gesellschaftlichen Bewusstsein verschwinden. Es verändern sich die Möglichkeiten der Gestaltung der Lösung der Widersprüche und Konflikte in der Gesellschaft.

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Der sogenannte „historische Materialismus“ ist kein genuin Marxscher Begriff. So wie er in der Literatur verwendet wird, beziehen sich die Diskussionen um den „HistoMat“ auf die Theorie einer geschichtlichen Abfolge verschiedener Gesellschaftsformationen, die notwendigerweise im Sinne sich auseinander entwickelnder Entwicklungsstufen vonstatten geht: von der Sklavenhaltergesellschaft, über den Feudalismus und Kapitalismus hin zum Sozialismus und Kommunismus. Der Ablauf der Geschichte wird als eine durch ökonomische Prozesse gesetzmäßig bestimmte Entwicklung der menschlichen Gesellschaft aufgefasst. Zur Anreicherung dieser Theorie finden sich (mehr bei Engels, weniger bei Marx) entsprechende Textpassagen, die aber keine theoretisch fundierte Analyse bilden und von ihnen nicht unter dem Begriff „Historischer Materialismus“ entwickelt wurden. Allgemein gesagt: auf welche Weise die ökonomischen Prozesse einer Gesellschaft die Grundlage ihrer Entwicklung darstellen, ist die treibende Frage hinter der Marxschen Kritik, also nicht die Ideen zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen, sondern die materiellen (Produktions-)Verhältnisse.

    Wenn der Produktionsprozess nun unter der bewussten Kontrolle frei sich assoziierender Menschen steht, brauchen sie nicht mehr zu tauschen. Sie können ihren Bedürfnissen entsprechend produzieren und sich anschließend Gedanken über die Verteilung des Geschaffenen machen. Insofern kann man sagen, dass ihre Ideen, Konflikte und Kompromisse („Bewusstsein“) als kollektive Bearbeitungsformen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, aber auch ihre individuellen Gedanken dazu („Bewusstsein“) oder die in so einer Gesellschaft entwickelten Wissenschaften („Bewusstsein“) den Produktionsprozess, den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur („Sein“) bestimmen. Das tun sie aber nicht im deterministischen Sinne, sondern im Sinne einer bewussten Steuerung. Umgekehrt wird auch weiterhin die Art und Weise, wie gearbeitet, verteilt und konsumiert wird, also die materiellen Verhältnisse, einen Einfluss darauf haben, wie die Menschen über ihre Gesellschaft denken, wonach sie streben, welche Regeln sie etablieren etc. Nur sind dann diese Verhältnisse „des praktischen Werktagslebens“ transparente „durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur“ (94). Sie finden nicht mehr „hinter dem Rücken“ der Produzent/innen statt. Religion muss dann auch nicht mehr die schlimmsten Zumutungen der „ver-kehrten“ Welt und der „ver-rückten“ Verhältnisse abfedern oder das diesseitige Leid legitimieren und dafür das Glück im Jenseits versprechen.

    3. Frage: Sind Preise Tauschwerte oder können sie auch vom Tauschwert abweichen? D.h. ist ein auf einem Preisschild geschriebener Geldbetrag ein Preis (S. 110) oder ist der Preis nur der tatsächlich realisierte Preis (S. 123), der auf dem Markt tatsächlich erzielbare und erzielte Tauschwert?

     

    Lutz Brangsch

    Der Preis ist eine Erscheinungsform des Tauschwertes. Sowohl der Preis auf dem Preisschild wie auch der realisierte Preis sind in diesem Sinne Preise. Sie repräsentieren jeweils auf unterschiedliche Weise das ihm zu Grunde liegende Wertverhältnis, das Verhältnis zweier Warenbesitzer. Relevant ist schließlich dann natürlich der realisierte Preis – aber hier wiederum nicht der der individuellen Ware, sondern der Durchschnitt der Preise einer Ware. Dieser repräsentiert dann tatsächlich den Tauschwert.

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Mit dem Begriff Tauschwert argumentiert Marx eigentlich nur so lange, bis er das Geld und damit die Möglichkeit der Preisform entwickelt hat. Tauschwert bezeichnet ein Wert-Verhältnis von zwei Waren - ohne Geld. Preis ist Tauschwert ausgedrückt in Geld. Da der Preis auch den vorgestellen Bezug auf Geld einschließt, ist der tatsächlich erzielte Preis für den Preis zunächst nicht relevant.

    Es ist also weniger eine Frage von einem quantitativen Abweichen, sondern eine Frage auf welcher Ebene der Argumentation Marx sich befindet. In der Realität gibt es keinen Tauschwert ohne Geld, demnach kann der Preis auch nicht von seinem Tauschwert quantitativ abweichen.

    4. Frage: Wenn der Preis aufhört Wertausdruck zu sein (S.117), hört dann der Preis auch auf Tauschwert zu sein oder hört stattdessen der Tauschwert auf, notwendige Ausdrucksweise und Erscheinungsform des Wertes (S. 53) zu sein?


    Lutz Brangsch

    Der Preis „ist“ nicht der Tauschwert, er bringt ihn im Normalfall (im gesellschaftlichen Durchschnitt) zum Ausdruck. Wir haben es bei Wert, Tauschwert und Preis mit jeweils auseinander hervorgehenden, trotzdem verschiedenen und gegeneinander relativ selbständigen Dingen zu tun. Marx geht es in dieser Unterscheidung darum, ausgehend vom Wesen der Sache, also vom Wertverhältnis in seiner von einer Vielzahl von Faktoren abstrahierenden Form, den LeserInnen zu zeigen, wie sich die Verhältnisse dann in der Realität darstellen und das Wesen des Preises, ein gesellschaftliches Verhältnis zu sein, verdecken. Dazu gehört auch, dass der Wert sich nur in einem Tauschwert darstellen kann – er existiert greifbar nicht in sich selbst, eben nur im Rahmen eines Tauschverhältnisses. Der erzielte Preis muss im Einzelfall nicht mit dem Tauschwert zusammenhängen, es können im Einzelfall völlig verschiedene Dinge sein. Nur auf der gesellschaftlichen Ebene fallen sie tatsächlich dann wieder zusammen, zumindest in dem von Marx gewählten Bedingungsgefüge. Insofern ist in dem beschriebenen Fall der Preis eben nicht mehr Ausdruck des Tauschwertes, der Tauschwert seinerseits bleibt trotzdem unverändert notwendige Ausdrucksweise und Erscheinungsform des Wertes.

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Marx meint hiermit genau das, was er im Satz danach ausführt: Es ist möglich, dass Gegenstände, menschliche Verpflichtungen, Haltungen und Regungen (Ehre, Gewissen) etc. einen Preis bekommen, obwohl sie kein Arbeitsprodukt und auch nicht als Ware produziert werden, sondern beispielsweise nur durch die richtige Summe "käuflich" werden (Gewissen). Damit hat etwas einen Preis, obwohl es kein Arbeitsprodukt und kein Wertgegenstand ist.

    Der Preis hört in diesem Beispiel auf, Wertausdruck zu sein, weil kein Wert zugrund liegt, der im Preis ausgedrückt werden kann. Der Preis ist anders bestimmt. Im dritten Band kommt Marx noch auf den unbearbeiteten Boden zu sprechen, der ebenso einen Preis haben kann, ohne Arbeitsprodukt zu sein.

    5. Frage: Welchen Unterschied macht Marx zwischen"menschlichen" (S. 50) und "gesellschaftlichen Bedürfnissen" (S. 87, 121)? Oder auch zwischen "Gebrauchswert" und "gesellschaftlichem Gebrauchswert" (S. 55)?



    Alex Demirović

    Meiner Überlegung nach macht Marx keinen Unterschied zwischen diesen Ausdrücken. Zwar könnten menschliche Bedürfnisse als solche von ihrer konkreten Form unterschieden werden. Aber nur, wie er das methodisch am Begriff der Produktion erläutert, im Sinne einer verständigen Abstraktion. „Wenn also von Produktion die Rede ist, ist immer die Rede von Produktion auf einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe – von der Produktion gesellschaftlicher Individuen.“ (MEW 42, 20) Menschen müssen essen, eine Unterkunft haben etc. Aber immer bilden Essen und Wohnen konkrete Verhältnisse, die die Menschen eingehen: „die mannigfachen Gebrauchsweisen der Dinge zu entdecken ist geschichtliche Tat“ (Das Kapital I, MEW 23, 49f). Es handelt sich um komplexe Praktiken zwischen ihnen: die Art des Arbeitsvorgangs: arbeiten Männer oder Frauen, Erwachsene oder Kinder, bilden sich Hierarchien, wie werden Wissen um die Qualität des Bodens, geeignete Pflanzen, klimatische Regelmäßigkeiten oder Arbeitstechniken weitervermittelt, wer kommt und in welchem Umfang in den Genuß welcher Erzeugnisse? Wer bereitet das Essen, in welcher Weise wird gegessen: bleiben alle beieinander oder wird nach Erwachsenen und Kindern oder nach Geschlecht unterschieden? Solche Fragen stellen sich in veränderte Weise auch für hochindustrialisierte Gesellschaften. Auch wenn es also im allgemeinen Sinn – als verständige Abstraktion – gemeinsame Merkmale menschlichen Lebens gibt, so besagen diese wenig über die konkreten Lebensverhältnisse, unter denen die Menschen leben.

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Menschliche Bedürfnisse können „irgendeiner Art“ (49) sein, sind also vielfältige, individuell unterschiedliche Bedürfnisse. Sie werden befriedigt von Produkten oder Dienstleistungen, abhängig von der Nützlichkeit (Gebrauchswert), die jede/r Einzelne einem Gut beimisst. Manche menschlichen Bedürfnisse werden von einem Glas Milch, andere vom Konsum einer Zigarette befriedigt – oder von beidem. Ob ich einen Kürbis nutze, um aus seinem Fruchtfleisch eine Suppe zu kochen, die Kerne zu rösten oder eine Helloween-Maske zu schnitzen, hängt von meinem individuellen Bedürfnis ab. Am Nordpol hat ein Kühlschrank sehr wahrscheinlich keinen Gebrauchswert, außer vielleicht den der Zierde oder als Status-Symbol. Ein menschliches Bedürfnis ist zugleich eine sehr allgemeine (alle Menschen betreffende) und eine sehr individuelle (von den jeweiligen Bedürfnissen der Einzelnen abhängige) Angelegenheit.

    In einer Gesellschaft, die auf Warentausch basiert und deren Mitglieder sich als Privatproduzenten auf dem anonymen Markt begegnen, kommt es darauf an, nützliche Dinge für andere zu produzieren. Man will seine eigenen Produkte als Waren auf dem Markt erfolgreich absetzen. Das geht nur, wenn die Waren „Gebrauchswert für andere, gesellschaftlichen Gebrauchswert“ (55) haben. Wenn sehr viele Produzent/innen Tische herstellen, nimmt deren gesellschaftlicher Gebrauchswert umso mehr ab, je weiter die Bedürfnisse nach Tischen in einer Gesellschaft befriedigt sind. In einem kapitalistisch verfassten Nationalstaat mag der Einzelne den Gebrauchswert von Tornado-Fliegern, Handschellen oder Atomkraftwerken bezweifeln, sie haben aber durchaus einen gesellschaftlichen Gebrauchswert, solange es zahlungskräftige Interessent/innen für diese Waren gibt. Beim Gebrauchswert steht die Frage der Nützlichkeit eines Dings im Zentrum, beim gesellschaftlichen Gebrauchswert die Frage der Nützlichkeit eines Dings für andere (zahlungsfähige Warenbesitzer).

    6. Frage: Der Preis kann von der Wertgröße abweichen, als das "Mehr oder Minder (...) unter gegebenen Umständen" (S. 117). Solche Umstände liegen in Form einer Überproduktion von Leinwand auf S. 121 vor. Dort hat die mangelnde Nachfrage aber Auswirkungen nicht nur auf den Preis, sondern auf den "Wert jeder individuellen Elle" (S. 122) selbst. Wie erklärt sich dieser Widerspruch?


    Lutz Brangsch

    Es geht hier um drei verschiedene Dinge. Im ersten Fall geht es um das Abweichen der Werte vom Preis durch die individuellen Abweichungen in den Produktionsbedingungen. „Die Wertgröße“, so Marx an der zitierten Stelle, „drückt also ein notwendiges, ihrem Bildungsprozess immanentes Verhältnis zur gesellschaftlichen Arbeitszeit aus.“ (S. 117) Im realisierten Preis manifestiert sich nicht die individuell verausgabte Arbeit, sondern eben nur die als gesellschaftlich notwendig anerkannte. Die Verwandlung der Wertgröße in den Preis bedeutet zweitens aber auch, dass sich erstere in einer anderen Ware, in der Geldware ausdrückt, das Verhältnis zur gesellschaftlichen Arbeitszeit erscheint als Verhältnis zu einer Geldware. Als Austauschverhältnis ist es aber so weiteren Faktoren unterworfen. Das wird auch im folgenden Absatz dann von Marx entwickelt – man kann einer Sache einen Preis geben, auch wenn sie nicht Produkt menschlicher Arbeit ist etc. Der Preis ist also in der konkreten Situation nie ein zuverlässiger Spiegel der Wertgröße.

    Im dritten Fall nimmt Marx einen Perspektivenwechsel vor. Bisher untersuchte er, wie sich ganz generell Wertgröße in einen Preis verwandelt. Der Preis gleicht unterschiedliche individuelle Arbeit zu einem in der Wertgröße sich ausdrückenden, den gesellschaftlichen Durchschnitt repräsentierenden Arbeitsaufwand aus, dies aber eben nicht vollkommen und nicht notwendig zu jedem Zeitpunkt. Nun betrachtet er einen speziellen Fall, nämlich die Situation, in der in einem Zweig relativ zu den anderen zu viel Arbeit eingesetzt wurde, den Fall der Überproduktion relativ zu anderen Zweigen. Es geht ihm darum, dass sich in der Überproduktion zeigt, dass die verausgabte Arbeit in großem Maßstab eben nicht gesellschaftlich notwendige Arbeit war, also nicht in die Bestimmung der Wertgröße eingehen kann. Das trifft „jede Elle Leinwand“ gleichermaßen – unabhängig davon, dass jede Elle Leinwand dem Wesen der Sache nach Produkt unterschiedlicher Quanta individueller Arbeit ist, unter unterschiedlichen Bedingungen zum Austausch kommt und sich diese Unterschiede auch in unterschiedlichen individuellen Preisen ausdrücken kann.

    Dies ist kein Widerspruch zu den vorher gemachten Äußerungen, vielmehr eine Erweiterung des betrachteten Rahmens.

    Man muss immer berücksichtigen, dass der Wert für Marx ein gesellschaftliches Verhältnis ist. Das Verhältnis zwischen Verkäufer und Käufer entsteht aber eben erst beim Verkauf. Somit zeigt sich erst im Austausch, ob sich die verausgabte Arbeit als gesellschaftlich notwendige Arbeit erweist. Mangelnde Nachfrage bzw. Überproduktion sind ein Ausdruck des tatsächlichen inneren Widerspruchs der individuellen Verausgabung von Arbeit in einer Gesellschaft, des inneren Widerspruchs der Ware und der warenproduzierenden Arbeit.

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Der Widerspruch erklärt sich dadurch, dass die Umstände, die Marx hier anführt, aber nicht ausführt, nicht die Überproduktion mit einschließen. Er meint hier Konkurrenz und konkrete Marktprozesse, sie außerhalb seines Plans liegen. So kann bspw. eine Monopolstellung den Preis einer Ware verändern. Das interessiert Marx aber an dieser Stelle nicht und ist auch nicht Gegenstand seiner Untersuchung.

    7. Frage: Wie verhält es sich mit Angebot und Nachfrage hinsichtlich der Geldware?

    Der Warenpreis hängt nach Marx nicht von der Menge der zirkulierenden Geldware ab (S. 132, 137). Wenn aber der Tauschwert einer Ware von der Nachfrage abhängt (S. 121f), warum sollte das nicht auch für die Geldware gelten? Könnte dann nicht auch eine zu große Goldmenge das gesellschaftliche Bedürfnis für Gold übersteigen, der besondere und der formale (S. 104) Gebrauchswert sich somit gesellschaftlich ebenfalls nicht bewähren, so wie der der Leinwand auf S. 121? Müssten die in Gold ausgedrückten Warenpreise dann nicht steigen? Warum also sollte zuviel Gold nur als Schatz existieren und nicht auch inflationär wirken können?

    Lutz Brangsch

    Hintergrund der Marx’schen Aussagen in diesem Abschnitt ist die Auseinandersetzung mit der Quantitätstheorie des Geldes. Diese führt den Wert des Geldes allein auf seine Quantität zurück. Marx stellt dem die Auffassung entgegen, dass auch der Wert des Geldes (hier des Goldes) durch die zu seiner Reproduktion benötigten gesellschaftlichen Arbeitszeit bestimmt wird. Nur so kann es etwa die Funktionen des Maßes des Wertes und Maßstabs des Preises ausfüllen. Steigt die Menge des umlaufenden Goldes relativ zu der sonstigen Warenmasse, so bedeutet das, dass die Menge der zur Reproduktion der Geldware erforderlichen Arbeitszeit sinkt. Bleibt die gesellschaftlich notwendige Arbeit für die Reproduktion der anderen Waren gleich, so verändert sich das quantitative Austauschverhältnis, was sich im Steigen der Preise, wie sie in Gold ausgedrückt werden zeigen kann. Darauf verweist Marx auch auf S. 147. Das ist durchaus auch in der Geschichte passiert. Es setzen dann zwei Prozesse ein. Die Goldproduktion ist eine Sphäre, die sich wie jede andere warenproduzierende Sphäre verhält. Es kommt, ein sinkender Bedarf nach Gold unterstellt, zu einer Abwanderung aus der Goldproduktion in andere Zweige. Und es setzt Schatzbildung ein eben wegen des spezifischen Gebrauchswertes der Goldware, gesellschaftlich anerkannter Repräsentant von Wert, von allgemeiner menschlicher Arbeit zu sein. Diese Regulierungsmechanismen kennt ein auf Papiergeld beruhendes System nicht, weswegen hier eine permanente, im Wesen des Papiergeldes angelegte Inflationsgefahr besteht.

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Zu viel Geld kann natürlich inflationär wirken, muss aber nicht. Marx recht allgemeine Argumentation wendet sich an dieser Stelle gegen die Vorstellung, Geld allein auf die Funktion des Zirkulationsmittels zu reduzieren. Der damals geführte Streit (zwischen den currency- und banking-school) findet bis heute seine Ausläufer (Monetarismus/monetärer Keynesianismus) und wird von Marx im dritten Band nochmals ausführlicher diskutiert. Die Frage nach der Geldmenge und deren Wirkung auf die Preise kann erst mit dem Kredit adäquat diskutiert werden.

    Literatur:

    Burchardt, Michael (1977): Die Currency-Bankinmg-Kontroverse. Real- und theoriegeschichtlicher Hintergrund des V. Abschnitts im 3. Band des "Kapital", in: mehrwert, Nr.12, 167-202.

    Milios, Jannis (2004): Die Marxsche Werttheorie und Geld. Zur Verteidigung der These über den endogenen Charakter des Geldes, in: Hecker, Rolf/ Vollgraf, Carl-Erich, et al. (Hg.): Neue Aspekte von Marx' Kapitalismus-Kritik (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2004), Hamburg, 95-114.

    8. Frage: Marx zählt Banknoten zum Kreditgeld (S. 152), unterscheidet aber Papiergeld von Kreditgeld (S. 141). Sind Banknoten kein Papiergeld?

     

    Lutz Brangsch

    Tatsächlich sind Banknoten kein Papiergeld – Papiergeld wird zu Geld durch einen Zwangskurs, der durch die Regierung relativ willkürlich festgelegt werden kann. Die Banknote erhält ihre Eigenschaft dadurch, dass sie tatsächlich Gold unmittelbar vertritt und in Gold grundsätzlich eintauschbar ist. Der allgemeine Sprachgebrauch, Geldscheine als Banknoten zu bezeichnen ist hier irreführend. Es handelt sich bei Banknoten und Papiergeld tatsächlich um zwei ökonomisch unterschiedliche Dinge.

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Die Banknoten zählt Marx zum Kreditgeld, weil diese ursprünglich nicht von einer  Zentralbank, sondern von Geschäftsbanken ausgegeben wurden. Als eine besondere Form von Kreditgeld, ein Zahlungsversprechen. Bei Vorlage einer Banknote versprach die Bank "richtiges Geld", d.h. damals Gold auszuzahlen. Dieses Zahlungsversprechen in Form der Banknote zirkulierte und übernahm zentrale Geldfunktionen.

    Die Banknote unterschied sich jedoch auch vom kommerziellen Wechsel, einem Zahlungsversprechen, das meist nach drei Monaten eingelöst wird. Auch der Wechsel kann Geldfunktionen übernehmen, hat aber eine Laufzeit und muss unterzeichnet werden (Indossament). Der Wechsel stellt nämlich eine Kreditbeziehung dar, die von zwei Parteien (Gläubiger/Schuldner) freiwillig eingegangen wird. Derartige Charakteristika treffen auf die Banknote nicht mehr zu. Diese hat weder eine Laufzeit und allein die Bank garantiert, dass bei Vorlage der Banknote Geld ausbezahlt wird. Die Banknote ist somit eine Art Wechsel zweiter Ordnung ("Wechsel auf den Bankier"; vgl. KIII, 416f.).

    Unter Papiergeld verstand Marx die von der Bank von England ausgegebenen Banknoten, die eine Sonderrolle spielten. So gab sie bspw. Banknoten aus, die durchaus durchaus den Charakter eines allgemeinen Zahlungsmittels hatten. Diese waren goldgedeckt (wobei immer wieder darüber gestritten wurde, wie groß die Deckung sein musste und welchen Einfluss die Ausgabe neuer Papiernoten auf das Preisniveau hatte). Gleichzeitig war die Bank von England noch keine rein staatliche Institution. Das von ihr ausgegebene Geld hat Marx vor Augen, wenn er von Papiergeld spricht. Dieses unterschied sich schon zu Marx' Zeiten von den klassischen Banknoten der Geschäftsbanken, aber war noch kein Zentralbankgeld wie wir es heute kennen.

    Alle anderen Banknoten sind deshalb kein Papiergeld, sondern Kreditgeld, das die Form von handbeschriebenen Papierzetteln, Formularen oder teilweise gedruckten Banknoten etc. hatte.

    Im dritten Band des Kapitals geht Marx auf alle diese Fragen nochmals ausführlich ein.

    9. Frage: Wie bestimmt sich das Geld als Maß der Werte und der Geldwert ohne Geldware?

    In Kapitel 3, Band 1 (MEW 23, S. 113) schreibt Marx: "Als Maß der Werte kann Gold nur dienen, weil es selbst Arbeitsprodukt, also der Möglichkeit nach ein veränderlicher Wert ist."
    Bedeutet das, dass unser Geld, das ja inzwischen vom Goldwert völlig unabhängig ist, nicht als Maß der Werte dienen kann? Und auf welcher Grundlage wird heutzutage der Wert des Geldes bestimmt?

    Lutz Brangsch

    Das ist eine bereits über lange Zeit laufende Diskussion. Eine Antwort, die sich nur auf den ersten Band des Kapitals stützt, kann auch nicht gegeben werden, weil Marx hier von sehr vielen Erscheinungen abstrahiert und erst im Verlaufe der Darlegungen im zweiten und dritten Band die entscheidenden mit der hier aufgeworfenen Frage verbundenen Probleme behandelt. Meines Wissens hat die Diskussion dieses Problem seit den späten achtziger Jahren keine neuen Ergebnisse gebracht. (zum Stand der Diskussion z.B. Ingo Stützle in „Das Kapital neu lesen“ Münster 2006) Insofern ist die hier wiedergegebene Interpretation ein Diskussionsstand. Wesentlich ist bleibt dabei aber, dass Geld, egal ob es sich als Geldware darstellt oder auf andere Weise, als gesellschaftliches Verhältnis verstanden wird. Die unterschiedlichen Interpretationen zur veränderten Rolle des Goldes sind so vor allem unterschiedliche Interpretationen der Entwicklung der dem zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse.

    Anknüpfend an Marx wurde in diesen Diskussionen die These vertreten, dass das Geld „letztlich“ doch goldbasiert sei, da Staaten z.B. oft Goldreserven anlegen und diese dann auch wie Geld eingesetzt werden. Es hat sich auf der anderen Seite die Auffassung herausgebildet, dass unser Geld heute Kreditgeld ist und als solches auch Wertmaß sein kann, also nicht als bloßes Papiergeld oder als Banknote (im Sinne des Goldstellvertreters) zirkuliert. Um das zu verstehen, muss man sich noch einmal vor Augen halten, dass Geld im Kern ein Verhältnis zwischen Menschen, genauer zwischen den Tätigkeiten von Menschen, ein gesellschaftliches Verhältnis repräsentiert. Das Verhältnis zum Gold war nur relevant, weil sich in diesen Verhältnissen das Gold als allgemeiner Repräsentant durchgesetzt hat, aus den Gründen, die Marx in K1 S.104 entwickelt.

    „Die spezifische Warenart nun, mit deren Naturalform die Äquivalentform gesellschaftlich verwächst, wird zur Geldware oder funktioniert als Geld. Es wird ihre spezifisch gesellschaftliche Funktion, und daher ihr gesellschaftliches Monopol, innerhalb der Warenwelt die Rolle des allgemeinen Äquivalents zu spielen... Der Fortschritt besteht nur darin, daß die Form unmittelbarer allgemeiner Austauschbarkeit oder die allgemeine Äquivalentform jetzt durch gesellschaftliche Gewohnheit endgültig mit der spezifischen Naturalform der Ware Gold verwachsen ist. Gold tritt den andren Waren nur als Geld gegenüber, weil es ihnen bereits zuvor als Ware gegenüberstand.“

    In dieser Funktion als Maß der Werte kann Gold als ideelles Geld fungieren. Sein Fehlen in der Zirkulation bedeutet nicht, dass es nicht als Geld bzw. Wertmaß fungieren würde. Grundlage ist die gesellschaftliche Praxis („Gesellschaftliche Gewohnheit“), die in der Goldproduktion verausgabte Arbeit als gesellschaftliche allgemeine Arbeit zu setzen. Der unmittelbare Austausch von Ware gegen Geld gegen Ware ist der Hintergrund, auf dem Gold seine Geldfunktion erwirbt.

    Wir müssen also nach der „gesellschaftlichen Gewohnheit“, der gesellschaftlichen Praxis fragen. Gold fungiert in dieser Praxis heute in hohem Maße als einfacher Rohstoff oder immer noch als Schatz – aber nicht im Sinne eines allgemeinen Äquivalentes, sondern als bloße Ware, die gut zu lagern ist (andernfalls würde man den Schatz vielleicht in Rohöl anlegen). Es ist die Entwicklung der Kreditbeziehungen selbst, die das Gold nicht nur in der Zirkulation überflüssig macht, sondern auch aus den Geldfunktionen weitgehend verdrängt. Das Normale ist Kauf und Verkauf auf Kredit, der in der Regel wieder durch Kredit gedeckt ist. Das ist die „gesellschaftliche Gewohnheit“. Marx selbst charakterisiert ja den Kredit als das höchste Stadium der Vergesellschaftung im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft. Insofern würde also der Verlust von Geldeigenschaften beim Gold nicht im Widerspruch zum Herangehen Marx’ an die Frage des Geldes als gesellschaftliches Verhältnis stehen – wenn sich diese Verhältnisse verändern, kann sich auch die Rolle des Goldes ändern. Er selbst beobachtete ja auch das Verschwinden des Goldes aus der unmittelbaren Zirkulation und dessen Ersetzung durch gegenseitige Verrechnungen zwischen den Bankhäusern.(siehe z.B. MEW 12 S. 546f.) Allerdings sagt Marx auch, dass sich zumindest in dem von ihm überschaubaren Rahmen der bürgerlichen Produktionsweise das Kreditgeld immer noch mit dem Gold verbunden bleibt (K3 S. 620): „Es muß aber nie vergessen werden, das erstens das Geld – in der Form der edlen Metalle – die Unterlage bleibt, wovon das das Kreditwesen der Sache nach nie loskommen kann...“

    Wie kann aber der Kredit als Maß der Werte fungieren? Im Band 1 des Kapital sagt Marx bezüglich der Maß- und Messfunktion des Geldes/Goldes folgendes: „Maß der Werte ist es als die gesellschaftliche Inkarnation der menschlichen Arbeit, Maßstab der Preise als ein festgesetztes Metallgewicht. Als Wertmaß dient es dazu, die Werte der bunt verschiednen Waren in Preise zu verwandeln, in vorgestellte Goldquanta; als Maßstab der Preise mißt es diese Goldquanta.“ (K1 S.113)

    Die beschriebene Entwicklung der Kreditbeziehungen ist Ausdruck eines bestimmten Niveaus der Vergesellschaftung der Produktion – die Produktivkräfte sind zunehmend nur noch gesellschaftlich anwendbar. Die in einem bestimmten Zweig der Produktion, also etwa der Goldproduktion, verausgabte Arbeit ist zunehmend gesellschaftlich geworden, sie hängt mehr und mehr von der Arbeit ab, die in anderen Zweigen verausgabt wird. In diesem Sinne wird die Arbeit, die in einem Zweig oder in einem Unternehmen verausgabt wird „gesellschaftlicher“. Die Verwandlung der Werte in Preise basiert vor diesem Hintergrund tatsächlich auf der durch die Gesamtheit der Kreditbeziehungen repräsentierten gesellschaftlichen Arbeit. Die Einbindung in die Kreditbeziehungen macht sie gleich. Als Maßstab der Preise kann er wirken, weil vermittelt über die Kreditbeziehungen die Gleichsetzung mit einer Quantifizierung verbunden wird, die Waren einander gegenübergestellt werden, auch wenn sie sich nicht gegeneinander austauschen. Die Messung erfolgt also nicht mehr im Quantum einer Ware, im Gold, sondern in der Totalität der Warenwelt. Das Geld stellt sich nicht mehr in einer einzelnen gegenständlichen Geldware dar, es sei denn, man betrachtet das Kapital in seiner Wareneigenschaft. Kapital wäre dann in der Marxschen Logik das tatsächlich nur ideell vorliegende, als Kredit dann in „harter“ Eigenschaft (Maßstab) auftretende Wertmaß.

    Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle

    Das ist eine lange und heiß diskutierte Frage (siehe Literatur). Die einen argumentieren, dass Marx in den ersten Kapiteln nur die Notwendigkeit eines allgemeinen Äquivalents begründen müsste, nicht aber, welche konkrete Gestalt dieses annimmt (Geldware oder Zentralbankgeld). Dass Marx eine Geldware unterstellt, ist eine nicht zu rechtfertigende Verallgemeinerung einer historisch-spezifischen Ausformung des Geldes. Zu Marx' Zeit waren die zirkulierenden Banknoten goldgedeckt, d.h. eine verbriefte Form von Gold. Heutzutage ist dem nicht mehr so. Das Zentralbankgeld ist das richtige Geld, kein Rechtstitel auf Gold, durch den Staat via politische Gewalt organisiert. Es übernimmt alle von Marx im dritten Kapitel untersuchten Funktionen - also auch Maß der Werte. Im dritten Band wird er die Bestimmung des Geldes weiterführen.

    Die andere Position geht davon aus, dass Marx Unterstellung einer Geldware nach wie vor gilt. Nur eine Geldware, ein Arbeitsprodukt könne Geld sein, da nur ein Wertgegenstand auch Wert messen könne. Wie der Zusammenhang zwischen Geld und Gold sein soll, bleibt jedoch unklar, da die Beziehung meist nicht über eine mehr oder weniger übliche Geld-Ware-Beziehung hinausgeht.

    Literatur:

    - Haug, Wolfgang Fritz (2007): Die "Neue Kapital-Lektüre" der monetären Werttheorie, in: Das Argument 171, 560-574.

    - Heinrich, Michael (1999): Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, Münster

    - Knolle-Grothusen, Ansgar/ Krüger, Stephan/ Wolf, Dieter (2009): Geldware, Geld und Währung. Grundlagen zur Lösung des Problems der Geldware, Hamburg

    - Stützle, Ingo (2006): Die Frage der konstitutiven Relevanz der Geldware in Marx' Kritik der politischen Ökonomie, in: Hoff, Jan/ Petrioli, Alexis, et al. (Hg.): Das Kapital neu lesen. Beiträge zur radikalen Philosophie, Münster, 256-286.