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SZ-Online-Artikel vom 29.01.09

Von Stephan Radomsky

Frisches Kapital

Quer durch Deutschland lesen Studenten wieder Marx. Sie wühlen sich durch "Das Kapital" - und das alles in ihrer Freizeit. Die Finanzkrise macht es möglich.

Marx-Lesekreise: Frisches Kapital Alter Philosoph neu entdeckt: "Das Kapital" von Karl Marx ist derzeit ein echter Verkaufsschlager - der Finanzkrise sei dank. Foto: dpa

Der Seminarraum brummt vor geschäftiger Konzentration: In Vierergruppen stecken Studenten die Köpfe über dicken, blauen Bänden zusammen, diskutieren eine Textpassage. "Da steckt doch genau das drin, was wir heute erleben: Wer nichts hat, der kommt auch zu nichts", weht es von einem der Tische herüber.

Insgesamt zwölf Studenten aus verschiedenen Semestern sitzen so in Klassenzimmer-Atmosphäre beisammen und machen sich Gedanken über den Kapitalismus. Ganz grundsätzlich.

Ihr Ziel: Sie wollen "Das Kapital" von Karl Marx verstehen. Bei vielen hat die Finanzkrise das Interesse geweckt: Weil Banken reihenweise die Pleite droht und die Wirtschaft ächzt, suchen sie nach Antworten - und finden zurück zu einem Klassiker.

Gut 800 Seiten besitzt das Buch, das vor jedem von ihnen liegt - und das ist nur der erste von drei Bänden. Etwa 120 Seiten haben sie hier in Leipzig seit Anfang des Semesters schon geschafft. Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Hauptseminar in Politikwissenschaft, hat eigentlich nichts mit der Uni zu tun. Alle sind freiwillig hier, investieren ihre Zeit, um sich gemeinsam mit einem der einflussreichsten Philosophen überhaupt auseinanderzusetzen.

Einzelausgabe über Wochen vergriffen

Und der hat in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise Hochkonjunktur. Allein der Sozialistisch-demokratische Studierendenverband (Die Linke.SDS), eine Gruppe, die der Linkspartei nahesteht, organisiert in 38 deutschen Städten solche Lesekreise. Dazu kommen unzählige Zirkel, die sich ohne Dachorganisation zusammengetan haben. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat viele animiert, über das System an sich nachzudenken.

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Vor allem die Verlage spüren dieses Interesse an frischem "Kapital". So verkaufte der Berliner Dietz-Verlag das Werk 2008 in verschiedenen Versionen nach eigenen Angaben rund 3500 Mal - der verkaufsstärkste Titel des Jahres.

Zum Vergleich: 2007 wurde "Das Kapital" bei Dietz nur gut 1300 Mal bestellt, 2005 lag die Zahl noch bei etwa 700 Büchern. "Das ist zwar nicht nur durch die Krise hoch gegangen, aber sie hat sicher noch einmal einen Schub gegeben", sagt Geschäftsführer Jörn Schütrumpf. Sechs Wochen lang sei die Einzelausgabe von Band eins sogar völlig ausverkauft gewesen, man habe sich mit dem entsprechenden Band aus der Marx-Gesamtausgabe behelfen müssen. Erst Anfang Dezember seien die frisch gedruckten Einzelausgaben wieder in den Handel gekommen. "Das ist gerade ein richtiger Hype."

Ähnlich sieht es beim Alfred-Kroener-Verlag aus, der ebenfalls eine "Kapital"-Ausgabe im Programm hat. Konkrete Zahlen will das Unternehmen zwar nicht nennen, es habe aber schon eine "enorme Steigerung in der Nachfrage" gegeben, sagt eine Sprecherin. Kurzzeitig habe auch Kroener das Buch nicht mehr auf Lager gehabt und neu binden lassen müssen. Und auch jetzt verkaufe sich Marx noch "sehr gut", heißt es beim Verlag.

Dabei hatten die wirtschaftlichen Hiobsbotschaften mit der Idee zu den Marx-Runden gar nichts zu tun, sagt die Politikwissenschaftsstudentin Pia Probst. Sie leitet den Leipziger Lesekreis gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Nicola Eschen. Das Projekt dauere schon seit eineinhalb Jahren. Damals wurden Interessierte gesucht, die später als sogenannte Teamer geschult wurden.

Sie wurden mit den Grundzügen des "Kapitals" vertraut gemacht, Dozenten gaben grundlegende Fragestellungen an die Hand. "Jetzt kommt uns die Krise natürlich entgegen", räumt Probst ein. Zur Leipziger Auftaktveranstaltung im Herbst erschienen rund 60 Interessierte, erzählen die Teamerinnen. Die Gruppe war so groß, dass sie geteilt und der Lesekreis auf zwei Abende pro Woche verteilt werden musste.

Fundierte Kritik üben

Obwohl die Marx-Runden an sich natürlich höchst politisch sind, will der Leipziger SDS-Lesekreis sich nicht als Mittel im Wahlkampf verstanden wissen. "Wir machen den Lesekreis, weil auch wir es toll finden, uns mit Marx zu beschäftigen", sagt Eschen. "Es geht uns darum, eine fundierte Kapitalismuskritik üben zu können, nicht um irgendwelche Wahlen."

Das würde wohl auch viele Teilnehmer vertreiben. Wie die Studentin Susann sind die wenigsten im SDS. Die 22-Jährige beschäftigt sich mit Afrika-Studien - Sprachen, aber auch Politik und Ökonomie des Kontinents. "Marx wird im Studium fast gar nicht thematisiert. Das hat mich gereizt", sagt sie. Sie habe den Eindruck, der Philosoph werde oft nur noch belächelt. "Ich will mir aber selbst eine Meinung bilden und mitreden können."

"Es ist positiv, dass die Leute sich wieder mit einem zu Unrecht vergessenen politischen Ökonomen beschäftigen", freut sich Hans-Georg Golz von der Bundeszentrale für politische Bildung über das neu erwachte Interesse an Marx. Es sei wichtig, sich nach Antworten auf die Frage nach sozialer Gerechtigkeit umzusehen. "Ob das mit dem Marx-Interesse eine längerfristige Sache wird, das wage ich zu bezweifeln", räumt Golz aber ein. Dafür sei das "Kapital" wahrscheinlich schlicht zu sperrig.

Die Härten des Textes haben auch in den Lesekreisen ihre Spuren hinterlassen: In Leipzig sind es noch gut 20 regelmäßige "Kapital"-Interessierte, die jede Woche zur gemeinsamen Lesestunde erscheinen. Das Buch verlangt ihnen viel Arbeit ab.

Zwei bis drei Stunden brauche er, um sich auf eine Sitzung vorzubereiten, sagt Thomas, der seit Anfang des Semesters regelmäßig dabei ist. "Es geht ja hier nicht um Hau-drauf-Phrasen gegen den Kapitalismus. Das ist schon differenzierter", sagt der 25-jährige Geschichts- und Philosophiestudent. Bis weit in den Abend stecken die Gruppen im Leipziger Seminarraum die Köpfe zusammen. So lange, bis schließlich der Wachdienst bittet, zu gehen. "Man muss nicht unbedingt überzeugter Marxist sein, um von diesen Diskussionen etwas zu haben."