Die Finanzkrise hält die Welt in Atem, und plötzlich erinnern sich viele an den Klassiker der Kapitalismuskritik: „Das Kapital“ hat wieder Konjunktur
In der DDR gehörte das grundlegende Werk des Urvater des Marxismus und Kommunismus zur Pflichtlektüre jedes SED-Genossen. Selbst im Westen standen die drei blauen "Kapital"-Bände bei vielen linken Studenten in den 60er und 70er Jahren im Bücherregal, auch wenn nur wenige sie wirklich gelesen haben. Nach der Wende allerdings war es ziemlich still geworden um den Klassiker der Kapitalismuskritik. Karl Marx wurde für tot erklärt. Doch angesichts der internationalen Finanzkrise erlebt das "Kapital" jetzt eine Renaissance.
Das Geschäft mit dem Buch boomt. Der Berliner Karl-Dietz Verlag hat allein in den ersten drei Oktoberwochen 417 Exemplare verkauft. Das klingt zunächst nicht besonders umwerfend. Vor allem dann nicht, wenn man dies mit den Absatzzahlen aus realsozialistischen Zeiten vergleicht. Doch der jährliche Absatz ist wieder enorm gestiegen. Bis 2004 verkaufte der Verlag knapp 100 Marx-Bände jährlich. In diesem Jahr waren es bereits 2500. Von Dienstag auf Mittwoch dieser Woche gingen allein 89 Exemplare weg, sagte der Geschäftsführer des Verlags, Jörn Schütrumpf. Er rechnet damit, dass der Absatz am Ende diesen Jahres noch „steiler steigt“.
Suchen die Deutschen in Zeiten der Finanzkrise Trost in Marx’ „Kapital“? Schütrumpf glaubt an diesen Zusammenhang: „Verkauft sich Marx gut, geht es der Gesellschaft schlecht.“ Immer mehr Menschen wollten wissen, wie der Kapitalismus funktioniere, seit sich zeige, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander gehe.
Schütrumpf bezweifelt allerdings, dass die, die im „Kapital“ nach Antworten suchen, dort auch fündig werden. „Bei Marx gibt es keine neuen Lösungen für unsere aktuellen Probleme. Er erklärt nur Zusammenhänge.“
Nele Haas, Mitinitiatoren der Lesebewegung „Marx neu entdecken“, sieht das anders. Sie glaubt, dass „Das Kapital“ wieder zu Rate gezogen werden müsse, um den Missständen der heutigen kapitalistischen Gesellschaft entgegen wirken zu können.
In diesem Wintersemester beginnen Lesekreise an allen großen deutschen Unis, ähnlich wie in den studentenbewegten 60er und 70er Jahren. Studenten wollen sich gemeinsam durch Band eins des Klassikers arbeiten. Die modularisierten Bachelor-Studiengänge ließen keinen Platz für die selbstständige Lektüre kritsicher Texte, so Nele Haas. Deswegen sei so eine betreute Lesebewegung unbedingt nötig. Die „Kapital“-Neulinge werden in einem Internetforum von bekannten Marx-Experten wie Wolfgang-Fritz Haug und Michael Heinrich begleitet, um nicht die Motivation zu verlieren, wenn ihnen manche Passagen allzu unverständlich sind.
Es seien allerdings längst nicht nur Studierende, die die Verkaufszahlen von Marx’ Hauptwerk in die Höhe treiben, sagte Verlags-Geschäftsführer Schütrumpf. Bisher gingen zu Beginn der Semester die meisten Exemplare über die Ladentheke. Mittlerweile laufe der Verkauf das ganze Jahr über gut.
Die neue Lesebewegung wurde vom Sozialistisch-Demokratischen Studierendenverband, der der Linkspartei nahesteht, ins Leben gerufen. Auch der Ostberliner Dietz-Verlag gehört überweiegend der Partei. Die Werke von Marx und Engels werden von der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegeben.
Trotzdem wäre es falsch, der polischen Linken einen PR-Gag zu unterstellen. Auch in den regulären Veranstaltungen der Unis könnte es ein Marx-Revival geben. Herbert Obinger, Leiter des Politikwissenschaftlichen Instituts der Universität Bremen, hält es für „durchaus möglich“, dass Marx seinen Weg zurück findet in die Vorlesungssäle. Dorthin, wo der so genannte neoliberale Mainstream kaum noch Platz lasse für alternative Theorien. „Man darf von Marx’ „Kapital“ zwar keine großen Lösungen erwarten. Studierenden sollte aber eine kritische Position angeboten werden. Zum breiten Spektrum der Kapitalismus-Kritik gehört eben auch Marx.“
Sollte Marx wieder obligatorisch werden an deutschen Unis, wird sich der Karl-Dietz Verlag auch nach der Finanzkrise weiter über steigende Verkaufszahlen freuen können.
Online ansehen : ZEIT Online