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Selbstversuch

Mein Date mit Marx

Was passiert, wenn man im Frühjahr 2009 versucht, "Das Kapital" zu lesen – zum ersten Mal und gleich komplett?

Eigentlich lese ich keine Bücher, deren Ende ich schon kenne. Das Wort, das meinen Blick auf Karl Marx verstellt hat und mich zuweilen gar mit der leisen Überlegenheit der späten Geburt über ihn sprechen ließ, lautete: Utopie. Marx’ Theorie schien mir zum Konjunktiv verurteilt zu sein. Weil sie im Indikativ gescheitert ist. Warum also sollte ich Karl Marx lesen? Die Marxsche Utopie, so mein Schlagwortwissen, fängt mit einem umhergehenden Gespenst an und hört mit den Proletariern aller Länder auf. Die sollen sich vereinigen (wegen der Weltrevolution). Ansonsten: Kapital, Entfremdung, Fetischcharakter der Waren, Klassenkampf. Geistiger Vater des Kommunismus. The rest is Wikipedia.

Rechtzeitig vor dem 1. Mai, kurz bevor sich die Proletarier aller Länder wieder vereinigen und während um mich herum das kapitalistische System krachend in sich zusammenzustürzen drohte, wollte ich mich doch auf einen Selbstversuch einlassen. Nicht nur die Financial Times, auch ich wollte wissen: Wie lebendig ist Karl Marx? Sein Werk, das ich drei Wochen lang durchpflüge und für das ich ein Wochenende lang Telefon und Computer ausschalte und sämtliche Sozialkontakte kappe, ist gefühlt so schwer wie alle Harry Potter- Bände in einem. Die Ausgabe von 2008 – in knalligem Pink – sieht wie der Grabstein eines Popstars aus. Karl Marx. Kapital und Politik: ein einschüchternder Anblick.

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Umso größer die Überraschung, als ich das Buch aufschlage: Marx lesen beruhigt. Ich habe ein Lesegefühl wie das letzte Mal beim Geschichtsbuch in der Schule. Keine Unübersichtlichkeit wie in der aktuellen Lage, keine schwammigen Prognosen für die Zukunft. Alles, was ich tun muss, ist Sätze unterstreichen. "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." So geht das stundenlang. Endlich mal ein geordneter Freitagabend.

Die Wochenendausgabe meiner Zeitung bleibt am Samstag ungelesen im Treppenhaus liegen. Soll Marx mir doch mal die Welt erklären! Die große Überraschung: Er tut es. Er kennt die Globalisierung ("ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander"), er kennt das Internet ("die unendlich erleichterte Kommunikation"). Er kennt sogar Dubai ("Die Bourgeoisie…hat enorme Städte geschaffen…, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde"). Und vor allem kennt Marx die Krise, die immer näher rückt und die wir alle bald kriegen werden. Krisen seien im Kapitalismus doch ganz normal. Na dann.


Sonntag. Ich schleppe Marx mit ins Café. Einige ältere Leute lächeln milde, als sie ihn sehen, und nicken mir aufmunternd zu. Die Jüngeren mustern mich skeptisch, aber auch bewundernd. Betont lässig blättere ich weiter durch die Kapitel. Ganz so, als hätte ich gestern Nacht nicht auf Seite 1032 bei der Erklärung der Produktion des relativen Mehrwertes verzweifelt aufgegeben. Das Kapital las sich zunächst wie eine harmlose Spielanleitung für Die Siedler von Catan. Den Dämmerzustand, in den ich nach hundert Seiten voller mathematischer Formeln zum Tausch von Eisen und Getreide geraten bin, hatte der Autor allerdings bestimmt nicht vor Augen, als er vom Ziel einer Veränderung des Bewusstseins sprach. Ich kann nicht glauben, dass in den Abendkursen des volkseigenen Kombinats und den Marx-AGs der 68er diese Kapitel nicht auch übersprungen worden sind.

Jetzt aber: Das Manifest der kommunistischen Partei. Der Arbeiter, gestern noch am Fließband, fängt an zu kämpfen. Die Revolution voranzutreiben ist schließlich sein "geschichtlicher Beruf". Warum nur ruft er dann "Opel ist mein Leben!" vor laufenden Kameras ins Mikrofon? Marx’ schriftliche Liveübertragung vom Untergang des Kapitalismus lässt solche Fragen nicht zu. Er will keine Verbesserungsvorschläge liefern, er beschreibt Prozesse, die so und nicht anders ablaufen werden. Fast wie ein Biologe, der ein Experiment erklärt. Die Revolution als Evolution. Sie schreitet voran, unaufhörlich, bis zu ihrem Höhepunkt: Die Arbeiter "zerschlagen" und "vernichten". An dieser Stelle werde ich unruhig. Der Klassenkampf scheint ein ziemlich fanatisches Projekt zu sein. Doch das Kampfgetöse klingt zum Glück bald wieder ab.

Abends zu Hause. Kapital statt Tatort. Karl Marx beschreibt Leute, die durch Reformen das System verbessern wollen. Heute würden wir sie "pseudo" nennen. Leute, die eigentlich nichts ändern wollen, Hauptsache, ihnen selbst geht es gut. Er höhnt: Sie "stellen sich die Welt, worin sie herrschen, natürlich als die beste Welt vor." Ich fühle mich ertappt. Wenn der dicke rosa Wälzer es schafft, innere Unruhe auszulösen und mir merkwürdig nahe zu kommen, dann kann Marx so tot noch nicht sein. Den Satz von den "Proletariern aller Länder" werde ich zumindest nicht mehr selbstgefällig als Floskel aus dem Geschichtsbuch abtun können. Was ist, wenn ich ihn als eine Aufforderung lese? An ein "Wir", das für eine gemeinsame Sache aufstehen soll? Würde das heute noch irgendjemand tun? Wenn ja, wofür? Und wer wäre dann "Wir"? In der Woche danach lese ich wieder Zeitung. Mit dem Unterschied, dass mir Marx’ Fragen jetzt immer mal wieder wie Pop-ups entgegenspringen. Und ich klicke sie nicht weg.